Unter den Narben (Darwin's Failure 2). Madeleine Puljic

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Unter den Narben (Darwin's Failure 2) - Madeleine Puljic Darwin's Failure

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sie durch die Hände der Puristen auf grausame Art verloren. Die Puristen wiederum … Sie waren nicht alle schlecht. Das konnten sie nicht sein.

      Füße schabten über den abgenutzten Fliesenboden. Wie lange hatte er seine Gemeinde nun bereits wortlos angestarrt? Zu lange jedenfalls.

      Doch immer noch zögerte er. War es Hass, den sie hören wollten? Bisher hatte er in seinen Predigten von Vergebung und Nächstenliebe gesprochen und ihre Herzen damit erreicht. Aber seit der Krieg begonnen hatte, verlor er sie. An das Feuer, an die Kugeln … und an andere Priester, die ihre Wut und ihren Schmerz nicht abwiegelten, sondern rechtfertigten.

      War es das, was die Menschen brauchten? Jemanden, der sie in ihrem Zorn bekräftigte und ihnen das schlechte Gewissen nahm, wenn sie ihre Menschlichkeit vergessen und zu einem weiteren Rädchen in der gewaltigen Maschine dieses unglückseligen Krieges werden wollten?

      Nein, nicht seine Anhänger. Sie waren ihm treu geblieben, gerade weil er nicht demselben Pfad folgte wie andere. Weil sie nicht dem Hass verfallen wollten. Sie brauchten ihn als Stütze.

      Viele von ihnen hatten Niove gekannt, sie als eine der ihren gesehen, ohne zu ahnen, dass ihre Gene nichts Natürliches an sich hatten. Sie hatten den Menschen in Niove gesehen. Klon, optimiert, natürlich, Purist – das alles waren nur Facetten ein und derselben Spezies. Er würde keinen Hass gegen eine davon predigen.

      Entschlossen straffte Atlan die Schultern. Er räusperte sich, und das unruhige Schaben verstummte.

      »Ich danke euch für euer Kommen«, begann er. »Gerade in diesen Tagen ist es schwer, sich nicht von der Gewalt vereinnahmen zu lassen, die unsere Leben bestimmt, jetzt mehr denn je. Den Mut nicht zu verlieren. Ein Opfer zu sein, während unsere Nachbarn, unsere Freunde zu Tätern werden. Aber ihr seid keine Opfer.«

      Verwirrte, unglückliche Mienen bei seinen Gläubigen. Sie begriffen nicht, worauf er hinauswollte. Atlan war von seinen Worten selbst überrascht. Sie entsprachen nicht dem Ton seiner üblichen Reden. Doch nun, da er sie einmal gefunden hatte, sprudelten sie unaufhaltsam aus ihm hervor.

      »Damit meine ich nicht, dass ihr euch zur Wehr setzen sollt. Das Letzte, was Noryak braucht, ist noch mehr Wut und Tod. Wer sich aus freien Stücken an den Kämpfen beteiligt, die unsere Stadt heimsuchen, ist nicht besser als jene, die sie angezettelt haben. Aber ihr müsst es auch nicht still erdulden, wenn man euch bedroht. Wenn man euch eure Liebsten nimmt. Wenn man euch Nahrung und Sicherheit nehmen will. Ihr müsst nicht die andere Wange hinhalten.«

      Ein Gleichnis, das Meister Ektor, Atlans Vorgänger und Lehrer, gerne gebracht hatte. Wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere hin. Atlan hatte viele Weisheiten seines Meisters übernommen, ohne an ihrem Sinn zu zweifeln. Diese zählte nicht dazu. Wenn seine Kindheit im Kloster ihn eines gelehrt hatte, dann, dass Peiniger niemals aufhörten, wenn man sie auch noch in ihrem Tun bestärkte. Sie schlugen nur stärker zu.

      »Ihr seid keine Opfer«, wiederholte er deshalb. »Seht euch um.« Er machte eine Geste, mit der er den gesamten Innenraum des Gebetshauses einschloss. »Ihr seid nicht alleine. Ihr müsst nicht alleine leiden.«

      Die versammelten Menschen folgten zögernd seinem Appell. Verstohlen sahen sie sich um, begegneten erstmals den Blicken ihrer Sitznachbarn. Abend für Abend fanden sie hier gemeinsam zusammen, lauschten seinen Predigten und waren eine Gemeinschaft. Das änderte jedoch nichts daran, dass außerhalb dieses Gebäudes der Alltag lauerte, und dort draußen galt nach wie vor: Jeder war sich selbst der Nächste. Fremde konnten einen ausnutzen, verraten und hintergehen. Je weniger Leuten man vertraute, desto sicherer war man. So jedenfalls war es früher gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert. Konkurrenz um die zu wenigen Arbeitsplätze war nicht länger das, was diesen Leuten Sorge bereiten musste.

      »Ihr seid nicht alleine. Ihr seid viele. Wir sind viele. Wir können einander helfen. Wir wollen alle dasselbe: überleben. Wenn ihr Tag für Tag füreinander da seid, so wie ihr es hier seid, dann können sie euch nicht zu Opfern machen. Schützt euch. Unterstützt euch. Habt Vertrauen. Begegnet dem Krieg mit Frieden. Seid das, was Puristen und Klone gleichermaßen vergessen haben: Seid menschlich!«

      Betretenes Schweigen breitete sich aus. Sie starrten ihn an, fassungslos. Vielleicht auch enttäuscht. War er zu weit gegangen? Er wollte doch nur helfen!

      Der Mann in der zweiten Reihe, dessen Sohn noch keine Woche tot war, erhob sich. Sein Blick war fest auf Atlan gerichtet. Dann drehte er sich um – und streckte dem Mädchen zu seiner Rechten die Hand entgegen. »Vertrauen für Frieden.«

      2. Kapitel

      Haron

      So sehr es Haron auch widerstrebte, er wusste, dass Ariat recht hatte. Er hatte seinen Leuten ein Versprechen gegeben: die Klone zu vernichten und die Reinen aus ihrem Elend zu erlösen. Und nicht nur sie, auch die Arbeiter, die an der Oberfläche zurückgeblieben waren. Menschen sollten nicht länger in Fabriken sterben, das billigste Ersatzteil der Maschinerie.

      Nun, zumindest diesen Teil hatte er gehalten. Stattdessen starben sie jetzt auf den Straßen.

      Aber doch nur, weil sie sich gegen den Umbruch wehrten, der ihnen helfen sollte! Haron verstand die Angst, die sie dazu bewog. Es änderte nichts. Er brauchte sie. Wenn sich die gesamte Unterschicht erhob, die Türme der Oberschicht erstürmte und dem künstlichen Dasein ein Ende bereitete, gäbe es nichts, was diese verfluchten Klone dagegen unternehmen könnten. Sie waren schwach. Haron wusste, dass er im Recht war. Und dennoch verlor er diesen Krieg, weil es ihm an Ressourcen mangelte.

      Er musste handeln. Nicht, um Ariat zu besänftigen – die war im Augenblick seine geringste Sorge, so gerne er auch die sture Aufmüpfigkeit aus ihr herausgeprügelt hätte. Doch in erster Linie musste er an die Menschen denken, die von ihm abhängig waren. Sie würden nicht mehr lange durchhalten. Er musste den Krieg beenden, und zwar bald.

      Dazu brauchte er allerdings etwas Großes. Etwas, das den Arbeitern zeigte, dass die Kluft zwischen Ober-und Unterschicht überwunden werden konnte. Dass sie nicht auf die Willkür von Klonen angewiesen waren, sondern ihr Leben selbst bestimmen konnten. Etwas, das die Missgeburten in den Boden stampfte – und bei dem es keine Kollateralschäden unter den Arbeitern geben durfte. Diesmal musste alles nach Plan laufen.

      Haron wusste, was er zu tun hatte. Aber dazu benötigte er Hilfe, und es gab nur einen Ort, wo er sie finden konnte.

      Er zog die verbeulte, rostige Kiste unter dem Brettergestell hervor, die ihm als Bett diente. Es war lange her, dass er sie zuletzt benötigt hatte, doch der Deckel ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Haron entfaltete den Kapuzenmantel aus grobem, grauem Stoff und seufzte. Er hatte sich nicht mehr verhüllt, seit er die Puristen zum offenen Widerstand aufgerufen hatte, stolz trug er seine Narben zur Schau.

      Heute jedoch brauchte er Anonymität.

      Kurzentschlossen klemmte er sich das Bündel unter den Armstumpf und schob mit der Rechten den Vorhang seiner Wohnnische auf. Er hielt sich an die weniger belebten Gänge des Tunnellabyrinths. Doch mit all den Neuankömmlingen war ungenutzte Fläche hier unten mittlerweile Mangelware, und als Anführer der Reinen lag sein Wohnbereich im Zentrum. Es dauerte nicht lange, bis ihm neugierige Blicke folgten. Haron ignorierte sie. Er war niemandem Rechenschaft schuldig, seine Pläne gingen vorerst nur ihn etwas an.

      Er zwängte sich durch die Menschenmenge, die sich zu jeder Tageszeit in der Haupthalle einfand und jeden freien Platz einnahm. Überall standen und saßen hagere Gestalten, die aus schmutzigen Schalen Portionen aßen, von denen Haron wusste, dass sie zu knapp bemessen waren. Er selbst hatte die Rationierung vorgenommen. Und doch tat er, als sähe er den

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