Sophienlust Staffel 14 – Familienroman. Elisabeth Swoboda
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Denise betrachtete Irene mit nachdenklichen Blicken. Sie hatte von ihrer Stieftochter Andrea von Lehn die rätselhafte Geschichte von Billies Verletzung vernommen und fragte sich, ob sie es überhaupt wagen durfte, Irene das Kind anzuvertrauen. Freilich glaubte sie ebensowenig wie Hans-Joachim und Andrea, dass Irene die Schuld an Billies sogenanntem Unfall trug. Denise fand Irene sehr sympathisch, und dass Anselm so schnell Vertrauen zu ihr gefaßt hatte, sprach für sie.
Vorsichtig fragte Denise: »Sie sind doch verheiratet? Was sagt Ihr Mann zu dem Plan, Anselm zu sich zu nehmen?«
Irene errötete. »Ich habe ihn noch nicht gefragt. Aber ich bin überzeugt, dass er sich freuen würde. Er hat Kinder sehr gern. Seit wir verheiratet sind …« Irene brach ab und seufzte leise.
»Sie wollen also Ihrem Mann eine Freude machen?«, fragte Denise, die Irenes Seufzer richtig interpretiert hatte.
»O nein«, wehrte Irene erschrocken ab. »Es geht mir nicht um Otmar oder um mich. Es stimmt, unsere Ehe ist nicht gerade glücklich. Wenn wir Kinder hätten, wäre das bestimmt ganz anders. Aber ich will Anselm nicht dazu benützen, den Bruch in unserer Ehe zu kitten. Es geht mir einzig und allein um das Wohl des Jungen. Sollte Otmar gegen Anselm voreingenommen sein, so …« Irene scheute sich, den Satz zu vollenden. Sie hatte sagen wollen …, so würde ich mich eben von ihm trennen. Sie erschrak, wie selbstverständlich sie diesen Gedanken hatte aussprechen wollen. Lag ihr wirklich nichts mehr an Otmar?
Denise beobachtete Irene schweigend und sagte schließlich: »Es hat keinen Sinn, sich jetzt schon den Kopf über Anselms Zukunft zu zerbrechen. Einstweilen ist er in Sophienlust gut aufgehoben. Wenn seine Mutter zurückkommt, wird sich ja herausstellen, was sie mit ihm vorhat.«
»Ja. Aber da ist noch eine Sache, die ich mir nicht erklären kann. Anselm erzählt so gern von seinem Vater. Aber von Frau Kaufmann habe ich gehört, dass Anselm seinen Vater gar nicht kennt. Dabei schildert ihn der Junge so plastisch und mit allen möglichen Details.«
Denise lächelte: »Das tun Kinder gern. Sie malen sich Phantasiegestalten aus und steigern sich mit einer solchen Intensität in ihre Träume hinein, dass sie schließlich selbst daran glauben. Ich halte Anselms Vater auch für ein derartiges Wunschbild.«
*
Nach diesem Gespräch hing Irene immer stärker ihren Träumen nach. Wenn Otmar Anselm nicht akzeptieren würde – nun, dann würde sie allein für den Jungen sorgen. Sie würde ihre Arbeit wieder aufnehmen und sich eine Stelle als Lehrerin suchen. Dann würde ihr für das Kind noch genügend Zeit bleiben. Und sicher würde es mir gelingen, irgendwo eine Wohnung zu finden. Doch wahrscheinlich würde das gar nicht notwendig sein. Otmar würde sicher an Anselm Gefallen finden. Der Junge war doch ein so liebes und anschmiegsames Kind.
Als Irene und Anselm wieder einmal mit Billie unterwegs waren, sagte Anselm plötzlich: »Schade, dass mein Vati Billie nicht kennt. Ich meine, deinen Billie. Mein Vati hat nämlich auch einen Hund, der Billie heißt.«
Irene beschloss, auf das Spiel einzugehen. »Und wie sieht der Billie von deinem Vati aus?«, fragte sie.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Anselm überraschenderweise. »Mein Vati hat ihn mir nie gezeigt. Er hat mir bloß von ihm erzählt.«
»Aber Anselm, das bildest du dir doch alles nur ein«, sagte Irene unbedachterweise.
»Nein, mein Vati hat mir wirklich oft von Billie erzählt«, beteuerte Anselm.
»Na ja, wenn du es sagst, wird es schon stimmen«, erwiderte Irene. Doch ihre Miene drückte dabei eine solche Ungläubigkeit aus, dass Anselm rief: »Natürlich stimmt es. Denkst du, ich schwindle? Vielleicht glaubst du auch nicht, dass ich einen Vati habe. Aber ich habe einen Vati. Er ist groß und blond und hat braune Augen. Am liebsten trägt er einen grauen Anzug und eine rotblau gestreifte Krawatte.«
Irene lächelte. Anselm schien von seinem Wunschvati eine sehr genaue Vorstellung zu haben. Was sie daran so freute, das war, dass Otmar ganz gut in das von Anselm beschriebene Bild passen würde. Würde Otmar mit Anselm einverstanden sein, so würde es auch umgekehrt der Fall sein. Irene sah die Zukunft in einem rosigen Licht.
*
Billie war inzwischen vollkommen genesen. Ein Aufenthalt im Tierheim war nun nicht mehr notwendig.
Andrea machte Irene eine diesbezügliche Mitteilung. »Billie ist jetzt wieder gesund«, sagte sie. »Sie brauchen sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen und können ihn ohne weiteres mit nach Hause nehmen.«
Andrea hatte erwartet, dass Irene mit Freude und Dankbarkeit auf diese Eröffnung reagieren würde, aber da täuschte sie sich. Trotz dieser erfreulichen Auskunft wurde Irenes Gesicht traurig. Ein wenig Verzweiflung war aus ihrer Stimme herauszuhören, als sie sagte: »Muss ich ihn mitnehmen? Darf ich ihn nicht noch eine Weile im Tierheim lassen? Hier ist er so gut aufgehoben.«
Andrea zeigte deutlich ihre Überraschung. »Ich habe geglaubt, Sie haben Billie gern?«, fragte sie.
»Das stimmt. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er hierbleiben könnte.«
»Ich an Ihrer Stelle wäre froh, wenn ich ihn bei mir haben könnte.«
»Ja …« Die Gedanken wirbelten Irene durch den Kopf. Natürlich, es musste sonderbar wirken, dass sie ihren Hund nicht bei sich haben wollte. Kein Wunder, dass Frau von Lehn annahm, sie habe ihn nicht gern. Dabei hatte Billie noch vor kurzem den Mittelpunkt ihres Lebens dargestellt. Dank Anselm war das nun anders. Trotzdem hatte sie Billie noch genauso gern wie früher. Aber sie fürchtete sich vor dem Zusammentreffen des Hundes mit Otmar. Ob der Hund vergessen hatte, was ihm sein Herrchen angetan hatte? Und wie würde sich Otmar in Zukunft dem Hund gegenüber verhalten? Vielleicht würde er ihn doch wieder misshandeln, allen Beteuerungen zum Trotz? Aber womit sollte sie ihr Zögern, Billie nach Hause zu nehmen, Frau von Lehn gegenüber motivieren?
»Wollen Sie den Hund überhaupt nicht mehr?«, fragte Andrea, der das Schweigen allmählich zu drückend wurde. »Sie können ihn uns eventuell ganz überlassen. Das wäre immerhin günstiger, als ihn zu fremden Leuten zu geben, die ihn quälen.«
Irene wusste nicht, was sie erwidern sollte. Es war ihr klar, dass Frau von Lehn auf Billies Verletzungen anspielte.
»Bei uns würde ihm nichts Böses zustoßen«, fuhr Andrea fort, während Irene immer verlegener wurde.
»Nein, ich will Billie nicht hergeben. Nicht für ständig«, sagte sie endlich. »Nur im Moment … Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll …«
»Sie sind mir keine Erklärung schuldig.« Andreas Antwort klang ziemlich kühl.
Es wurde Irene bewusst, dass sie die Wahrheit nicht länger verschweigen konnte. Zumindest nicht Andrea gegenüber. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden«, begann sie, »aber wenn ich Ihnen von dem Vorfall erzählt habe, werden Sie wahrscheinlich besser verstehen, wie peinlich mir die ganze Angelegenheit ist.« Danach beschrieb sie, wie Billie sich die Verletzungen zugezogen hatte.
Andrea hörte ihr entsetzt zu. »Ihr Mann muss ein abscheulicher Mensch sein!«, rief sie spontan aus.
»O nein«, widersprach Irene, »er ist nicht abscheulich.«
»Ein Mann, der ein