Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen. Andrea Marcolongo

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Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen - Andrea Marcolongo Transfer Bibliothek

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dem Meer fühlst du dich sicher.

      Nichts von dem, was dich am Ufer beunruhigte, ist mehr da.

      Du sagst zu dir selbst:

      „Mir kann das nicht passieren.“

      Diese Worte sind so tröstlich, dass sie einschläfernd wirken.

      Langsam gleitest du in eine ruhige Apathie.

      Alles ist so weit weg.

      Nein, es kann nicht passieren.

      Dir nicht.

      In seinem Buch der Unruhe schrieb Fernando Pessoa, Wir leben alle in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das aus einem Hafen ausgelaufen ist, den wir nicht kennen. Es ist unterwegs zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen. Wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit gegenüber Reisebekanntschaften aufbringen.

      Auch ich war immer schon unruhig. Ich mag das Gewellte – die Hügel am Meer, nicht die Ebene am See. Und auch ich bin viel gereist, bevor ich den Mut fand, dieses Buch zu schreiben: nicht nur in horizontaler Richtung durch unbekannte Städte und Länder, sondern vor allem in die Tiefe: ins Innere der Menschen, unter die Oberfläche ihrer Worte, Blicke, Gesten.

      Mit dreißig Jahren befand ich mich an Bord eines Schiffes, das von einem unbekannten Hafen, der Literatur, ausgelaufen war.

      Ich habe nur deshalb den Mut gefunden, über das unbekannte Meer zu fahren, weil ich der Liebenswürdigkeit begegnet bin, von der Pessoa schreibt und mit der mich meine Reisegefährten empfangen und unterstützt haben: meine Leser – auch Sie, die Sie mich zum ersten Mal lesen und erfahren, welche Bekanntschaften ich auf der Reise zwischen meinen beiden Häfen gemacht und was ich gelernt habe.

      Aus Dankbarkeit für Ihre Neugier, für Ihre Diskretion, für die Bereitschaft, sich in der Gegenwart mithilfe dessen zu orientieren, was seit jeher als alt, also veraltet gilt, habe ich wieder zu schreiben begonnen. Um all die Fragen, die Sie mir gestellt haben, sorgfältig und ausführlich zu beantworten. Und um zu versuchen, die Antworten zu finden, die ich vielleicht auch jetzt nicht kenne und die nie endgültig sein werden, wie es bei den schönen und unergründlichen Dingen des Lebens immer der Fall ist.

      Gibt es in unserer Zukunft noch Platz für die Vergangenheit? Was verwandelt die persönliche Erinnerung in kollektives Gedächtnis, das in der Lage ist, die zeitgenössische Einsamkeit zu besiegen? Warum wollen wir alle frei sein, haben jedoch eine seltsame Angst vor der Freiheit, wenn sie wirklich eintritt? Und warum muss die Angst unbedingt ein Gefühl sein, für das man sich schämt, warum akzeptieren wir sie nicht als wichtigen Überlebensinstinkt, der uns zwingt, uns zu verändern, um uns in Sicherheit zu bringen? Was soll man tun, wenn das Leben uns die Möglichkeit bietet, nach unserer Fasson und nicht nach der der anderen zu leben? Einen Beruf ausüben, heißt schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen und nicht, sich im Namen einer Arbeit und einer von anderen definierten Perfektion das Leben mit Ängsten und Sorgen zu ruinieren. Welcher Unterschied besteht zwischen vernetzt und vereint sein und warum haben wir uns in der ganzen Geschichte der Menschheit noch nie so einsam gefühlt? Ist dies die Epoche der unbegrenzten Vernetztheit oder des ständigen Unterbrochenwerdens?

      Diese Fragen haben Sie mir unter anderem gestellt. Ich habe beschlossen, den Faden, der mich mit Ihnen verbindet, festzuhalten, als wäre er das Kostbarste, was ich besitze. Und ich habe beschlossen, mich mit der Erfahrung der Veränderung auseinanderzusetzen, von der Überschreitung der Schattenlinie zu sprechen, die zwischen Kindheit und Erwachsensein liegt.

      Dieses Buch handelt also nicht vom Meer, das ich unendlich liebe und ohne das ich nicht leben könnte, und auch nicht von der Schifffahrt, von der ich nur das weiß, was die Literatur darüber erzählt. Es handelt vielmehr von der schwierigen und doch so effektiven Kunst, sich auf eine Reise zu begeben und sich zu überwinden, um erwachsen zu werden, egal, wie alt man ist, denn das Leben kommt nie zum Stillstand – allenfalls kommen wir zum Stillstand.

      Es handelt von dem, was passiert, wenn wir uns auf dem Festland des Lebens entscheiden müssen, das im Grund gar nicht so fest ist, sondern sich ständig verändert, auch wenn wir das nicht wollen – und wir mit ihm. Das tut es mithilfe moderner Worte, die alten Ursprungs sind, mithilfe von Mythen und Legenden, die seit jeher glasklar den Sinn der Dinge beherbergen, die alle menschlichen Wesen einen.

      Ich möchte Sie im einzigartigen Augenblick der Entscheidung mit Metaphern im ursprünglichen Sinn des Wortes begleiten. Sie in der Art einer Metapher – eines altgriechischen Wortes, das aus der Präposition μετα (meta = durch) und dem Verb ϕέρω(féro = tragen) besteht – an der Hand nehmen und durch unsere alltäglichen, intimen Gefühle führen. Wie im Neugriechischen, in dem Fahrzeuge μεταϕοράς (metaphoràs) heißen – auf den Straßen von Athen bewegt man sich inmitten von Metaphern, die Blumen ausliefern.

      Mithilfe der Argonautensage und der Worte des Meeres möchte ich Sie über diese Schwelle führen, die wir immer überschreiten müssen, wenn uns etwas Gewaltiges zustößt und wir uns für immer verändern. Wenn uns ein unbekannter Wind aus dem Dämmerschlaf weckt und wir uns immer wieder die Frage stellen: „Passiert das wirklich mir?“

      Wir leben in einer Zeit, in der es nie genügend Worte zu geben scheint, in einer Zeit, in der wir Neologismen wie Münzgeld prägen, um einander zu verstehen und verstanden zu werden. Doch es sind armselige Worte, sie haben keinen Wert, sie rauben den Dingen ihren Sinn, anstatt ihnen einen neuen hinzuzufügen, und ihre unaufhaltsame Inflation macht uns immer nur ärmer statt reicher.

      Nichtssagende Worte, reine Signifikanten, die einen Sommer lang funkeln wie ein Schlager, den wir im Radio hören und dabei etwas anderes tun – schon haben wir ihre Bedeutung vergessen, weil wir sie nie verstanden haben oder man sie uns nie erklärt hat.

      Und so suchen wir atemlos neue Begriffe, um das zu bezeichnen, was im Grunde schon seit jeher da ist und das wir seit jeher erleben, von dem wir aber nicht mehr sprechen können.

      Ständig heißt es, wir müssten die Sprachen erhalten und vor geheimnisvollen Feinden ohne Antlitz und Namen – Eindringlingen, Eroberern, Fremden – verteidigen.

      Und während wir einen imaginären Saboteur von den Dimensionen eines Seeungeheuers bekämpfen und dabei Grammatikbücher schwenken oder dem Internet die Schuld geben, entgleiten uns die existierenden Worte immer mehr, als ob die Zeit des Sagens und des Wissens uns in der Sanduhr der Gegenwart entrinnt.

      Die Pegel des Meeres, der Verwirrung, des chaotischen Lärms steigen immer weiter, und auf unserem Ufer gibt es immer weniger Sand, auf dem wir uns ausstrecken und endlich miteinander reden könnten.

      Wir haben das Gefühl, die Worte entgleiten uns aus Sorglosigkeit oder Nachlässigkeit, wie ein Schirm, der an einem Regentag gleichgültig in einer Ecke stehengelassen wurde.

      Die Schuld für unser armseliges Dasein geben wir den sozialen Netzwerken, den Emojis am Handy, wir bezeichnen die Kunst Homers als storytelling und Werbung als Kommunikation und verbuchen selbst Marketing unter lifestyle.

      Gesenkten Hauptes akzeptieren wir ein modernes ipse dixit, doch wir erkennen nicht mehr, wer was gesagt hat, wir glauben alles und allen, ohne die Mühe auf uns zu nehmen, es zu überprüfen.

      Wenn uns eine Information dennoch als unglaubwürdig erscheint, bezeichnen wir sie als fake news, gehen allerdings gleich zur nächsten Nachricht über, ohne zu ergründen, wie und warum sie falsch ist, und ohne sie mit einem Wort zu bezeichnen, das Kinder sehr früh lernen: Lüge.

      Wir

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