Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen. Andrea Marcolongo

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Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen - Andrea Marcolongo Transfer Bibliothek

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und Müllcontainern, uns fehlt die Weltsicht, wir navigieren im Nebel, immer einsamer und ohne Steuermann, in Dantes Fegefeuer verbannt.

      Wir trauen niemandem mehr, schon gar nicht uns selbst, wir suchen Lehrer, die uns erklären, wie wir uns zwischen den Tutorials auf YouTube zurechtfinden sollen, während wir denjenigen, die tatsächlich Erfahrung haben, misstrauen, weil sie alt sind.

      Wir verhalten uns wie Autofahrer im Verkehr, mit der Hand ständig auf der Hupe, um uns Platz zu verschaffen, anstatt uns dem Nächsten zu nähern und ihn anzuhören. Wir gehen dem Unerwarteten aus dem Weg, um erleichtert sagen zu können, wir würden nichts Gutes oder Neues mehr erwarten, „denn es bringt ohnehin nichts, es bleibt ohnehin alles gleich“.

      Wir zeigen anklagend mit dem Finger auf die Technik, als wäre sie mit dem iPhone und nicht vor Tausenden Jahren mit der Erfindung des Rades entstanden. Dabei vergessen wir, dass ein Handy nicht an unserer Stelle kommuniziert, so wie ein Wagen nicht ohne unsere Hilfe das Ziel erreicht – wir sitzen am Steuer und verfluchen das Navi, wenn wir uns verirren.

      Wir brauchen Regeln, sogar Gesetze und Gerichtshöfe, um Liebe und Hass empfinden zu können – reine Gefühle, die die Griechen im Theater mithilfe von Tragödien und Komödien auslebten.

      Wir, Männer und Frauen, laufen vor Worten davon, vermeiden sie, verwenden sie so wenig wie nur möglich, als ob sie gefährlich wären. Als ob wir uns die Hände verbrennen würden, wenn wir sie halten, oder den Empfänger damit verbrennen könnten. Als hätten wir Angst davor, dass wir zeitversetzt die Unwirklichkeit dessen übermitteln, was wir nicht sind, nicht die Wirklichkeit dessen, was wir wirklich sind. Wir sind die ersten, die absichtlich Worte vermeiden, denn sie würden uns zwingen, ehrlich, genau und gefühlvoll von uns zu sprechen.

      Sind wir wirklich immer und ausschließlich total traurig oder total glücklich? Besitzen wir nur zwei Worte, um unsere Gefühle zum Ausdruck zu bringen?

      Warum leben wir alle an Bord eines Schiffes, in dem es Verhältnisse statt Beziehungen und kein maßvolles Sprechen mehr gibt, sodass wir alle total reich oder total arm an Worten sind? Warum sind wir keine Menschen mehr, sondern im besten Fall Individuen und im schlimmsten Fall Individualisten?

      Wohin ist die Liebenswürdigkeit der Reisegefährten verschwunden, in der die Liebe zum Nächsten – der ebenfalls ein Reisender ist – aufgehoben ist und durch die wir – auch wenn wir nur ein einziges Wort wechseln – herausfinden würden, dass wir im Grunde auf ein und demselben Schiff unterwegs sind?

      Nein, ich glaube nicht, dass wir die Sprache verlieren, wie Sie in Ihren Briefen geschrieben haben, und auch nicht, dass man eine alte Sprache kennen muss, um nicht wortlos vor dem Schauspiel des Lebens zu stehen.

      Und noch weniger glaube ich, dass wir die Intensität des Liebens, Begehrens, Leidens verlieren, die Fähigkeit, uns Fragen zu stellen und Zweifel zu beseitigen, wie Sie befürchten.

      Wir verlieben uns, hoffen, empfinden Schmerz wie Medea und Jason, doch heutzutage machen wir das lautlos, um nicht zu stören. Warum fragen die wenigen, die den Mut haben, zu telefonieren, statt eine Mail zu schreiben: Störe ich dich, anstatt zu fragen: Wie geht’s dir?

      Indem wir immer weniger Worte verwenden, um über uns zu sprechen, und wenn, dann immer dieselben, legen wir vielmehr eine Grenze für unsere Sprache fest. Die Grenzen unseres Sprechens werden immer enger und unsere Welt wird jeden Tag kleiner. Stummer.

      Limes bedeutete im Lateinischen nicht nur Grenze, sondern auch Querweg, Weg, also nicht befestigte Straße. Heutzutage versuchen wir mit unseren Worten, sie nicht zu begehen. Aus Angst vor dem, was wir jenseits der Grenze finden könnten, überschreiten wir sie nicht.

      Wir brausen auf der Autobahn der Banalität dahin.

      Wenn das Reden die Macht hat, die Dinge wirklich zu machen, wer sind wir dann wirklich?

      Lieber es nicht entdecken.

      Und uns nicht entdecken lassen.

      Keine Ahnung warum, aber wir haben mittlerweile Angst vor den Worten – nur dazu sind Grenzen gut.

      Ausgesprochene, geschriebene oder auch nur gedachte Worte verbergen nicht.

      Niemals.

      Sie offenbaren.

      Und mithilfe von Worten stellen wir uns nicht nur den anderen, sondern vor allem uns selbst dar, als würden wir uns immer, wenn wir einen Gedanken formulieren, bei einem sich ewig wiederholenden ersten Rendezvous einstellen.

      Ich hoffe, dieses Buch hilft Ihnen, mehr zu lieben, mehr zu lachen, mehr vom Leben zu verlangen, die Angst vor Entscheidungen zu überwinden, wenn das Leben eine Stellungnahme von Ihnen verlangt. Und vor allem nicht die richtigen, sondern die eigenen Worte zu finden.

      Im Grunde bedeutet Lesen, im Lateinischen lego, nichts anderes als auswählen. Nur dazu sind Worte gut: um sich auszuwählen.

      Ich möchte Ihnen zwei Geschichten erzählen.

      Die kürzere stammt aus einem englischen Handbuch vom Jahr 1942, How to Abandon Ship. Wie man von Bord geht.

      In diesem Handbuch werden Ratschläge gegeben, wie man den Schiffbruch eines Frachters oder Ozeandampfers überlebt; während des Zweiten Weltkriegs waren derartige Schiffbrüche genauso dramatisch wie häufig.

      Ich habe mich vor vielen Jahren auf einer Reise durch Kent in dieses Handbuch verliebt, ich habe es bei einem Trödler gekauft, es aus Liebe verschenkt, es mit der Liebe verloren.

      Ich habe nicht klein beigegeben: Ich habe es noch einmal bei einem anderen Trödler gekauft.

      Die Motti, die Sie in diesem Buch am Anfang eines jeden Kapitels finden, stammen aus diesem wunderbaren schmalen Buch, das ungeachtet des Titels für mich nicht ein Handbuch mit Ratschlägen zur Flucht, sondern vielmehr eine Sammlung von Strategien ist, wie man die Schiffbrüche des Lebens übersteht und überlebt.

      In den zahlreichen Kapiteln werden alle möglichen ausführlichen Ratschläge gegeben, etwa wie man ein Rettungsboot zu Wasser lässt oder auf hoher See hervorragenden Whisky braut, doch der erste Satz dieses alten Ratgebers lautet nicht zufällig: This manual is concerned solely with human lives. In diesem Ratgeber geht es nur um Menschenleben.

      Die zweite Geschichte ist um einiges größer und bedeutender – ein Mythos, der sogar noch älter ist als der von Troja –, den alle gut kennen, wie Homer über die Fahrt des Schiffes Argo in Buch XII der Odyssee sagt.

      Es handelt sich um die Fahrt der Argonauten, Helden, auf einem Schiff namens Argo, deren Schatten Neptun staunen ließ (wie Dante in der Göttlichen Komödie, Paradies, dreiunddreißigster Gesang, Vers 96 schrieb), dem ersten Schiff, das den Mythenforschern zufolge in See stach.

      In den Metamorphosen (Sechstes Buch, Verse 719–721) widmete Ovid der Fahrt der Argonauten wunderschöne Verse:

      Ihre Abenteuer auf der Suche nach dem Goldenen Vlies wurden bereits in einem Mythos erwähnt, der aus der Zeit der Mykener, der ältesten griechischen Kultur, stammt.

      Im

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