Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre

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Die Revolution der Städte - Henri Lefebvre eva taschenbuch

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Vororte zum Ausdruck kam. Irgendwann jedoch verkehren sich die vielschichtigen Beziehungen ins Gegenteil, die Situation kehrt sich um. Auf der Achse muß der bedeutsame Moment dieser Rückkehr, der Umkehrung, der Heterotopie angezeigt werden. Von jetzt an erscheint die Stadt weder sich noch der Umwelt als städtische Insel in einem Ozean aus Land; verglichen mit der dörflichen oder ländlichen Natur erscheint sie sich nicht mehr als etwas Paradoxes, als Ungeheuer, Himmel oder Hölle. Sie geht in Bewußtsein und Wissen als gleichwertiges Element des Gegensatzes »Stadt – Land« ein. Das Land? Es ist nun nichts – oder nichts mehr – als die »Umgebung« der Stadt, ihr Horizont, ihre Grenze. Der Dorfbewohner? Er hört in seinen eigenen Augen auf, für den Grundherrn zu arbeiten. Er produziert für die Stadt, für den städtischen Markt. Wenn er auch weiß, daß der Korn- und der Holzhändler ihn ausbeuten, so findet er doch dort, auf dem Markt, den Weg in die Freiheit.

      Was geht nun zu diesem kritischen Zeitpunkt vor sich? Der denkende Mensch sieht sich nicht mehr als Teil der Natur, einer düsteren Welt, geheimnisvollen Kräften ausgeliefert. Zwischen ihm und der Natur, zwischen seinem Zentrum und Mittelpunkt (dem des Denkens, des Seins) und der Welt steht nun ein wichtiger Vermittler: die Wirklichkeit der Stadt. Von diesem Augenblick an sind Gesellschaft und Land nicht mehr eins. Auch politische Stadt und Gesellschaft bilden keine Einheit mehr. Der Staat wächst über sie hinaus, nimmt in seiner Hegemonie von ihnen Besitz und nützt die Rivalität beider aus. Dennoch erkennt der Mensch der damaligen Zeit die sich ankündigende Majestät nicht. Die VERNUNFT, wer wird sie für sich in Anspruch nehmen dürfen? Das Königtum? Der Herr des Himmels? Das Individuum? Was sich wirklich wandelt, das ist – nach dem Niedergang Athens und Roms, nachdem deren wichtigste Werke, die Logik und das Recht, in Nacht versanken – die Vernunft der politischen Stadt. Eine Wiedergeburt des Logos findet statt, aber man schreibt sie nicht dem Wiedererstehen des Stadtwesens zu, sondern einer transzendenten Ursache. Der Rationalismus, der seinen Höhepunkt mit Descartes erreicht, begleitet diese Umkehrung der Dinge, bei der das Städtische dem Dörflich-Ländlichen den Rang abläuft. Aber die Stadt erkennt ihre neue Vorrangstellung nicht. Dennoch entsteht um diese Zeit das Bild der Stadt. Schon besaß die Stadt die Schreibkunst mit ihren Geheimnissen und ihrer Macht. Schon stellte sie städtisches (gebildetes) Wesen gegen bäuerlich-ländliches (einfältig und roh). Von einem gewissen Zeitpunkt an besitzt sie ihre eigene Schrift: den Plan. Darunter ist nicht die Planung zu verstehen, auch wenn sich erste Anfänge von Planung schon abzeichnen, sondern die Planimetrie.

      Im 16. und 17. Jahrhundert, als dieser Bedeutungswandel vor sich geht, erscheinen in Europa Stadtpläne, erscheinen vor allem die ersten Pläne von Paris. Noch sind sie nicht abstrakte Pläne, nicht Projektionen des Stadtraumes in ein geometrisches Koordinatensystem. Vielmehr sind sie eine Mischung aus Vorstellung und Wahrnehmung, aus Kunst und Wissenschaft, zeigen die Stadt von oben und aus der Ferne gesehen, perspektivisch, als Gemälde und gleichzeitig als geometrische Darstellung. Der idealistische und zugleich realistische Blick, der Blick des Geistes, der Macht, richtet sich auf die Vertikale, in den Bereich der Erkenntnis und der Vernunft, beherrscht und schafft so ein Ganzes: die Stadt. Diese Umkehrung der Gesellschaftsordnung, diese Verlegung des sozialen Geschehens in den Bereich des Städtischen, diese (relative) Diskontinuität läßt sich ohne weiteres auf der Raum-Zeit-Achse darstellen, auf der sich – da sie kontinuierlich verläuft – (relative) Zäsuren unschwer aufzeigen lassen. Es genügt, die Achse zwischen der Anfangsnull und der Endzahl (in der Hypothese ist das 100) durch eine Gerade zu halbieren. Der Bedeutungswandel ist untrennbar mit dem Wachstum des Handelskapitals, der Existenz eines Marktes verbunden. Es ist die Handelsstadt, der politischen Stadt aufgepfropft, aber ihren aufsteigenden Weg verfolgend, die das erklärt. Sie geht um ein weniges dem Auftauchen des Industriekapitals voran und infolgedessen der Industriestadt. Beide erscheinen kurz vor dem Auftreten des Industriekapitals und somit der Industriestadt. Zu diesem Begriff sind einige Anmerkungen notwendig. Ist die Industriestadt mit der Stadt verbunden? Eigentlich steht sie ja mit der Nicht-Stadt in Zusammenhang, mit dem Nichtvorhandensein der Stadt oder dem Bruch in der städtischen Wirklichkeit. Man weiß, daß Industrien ursprünglich da entstehen, wo Energiequellen (Kohle, Wasser), Rohstoffe (Metalle, Faserstoffe), Arbeitskräfte vorhanden sind. Wenn sie in die Umgebung der Stadt ziehen, so dann, um in die Nähe des Kapitals und der Kapitalisten, des Marktes, reichlicherer und billigerer Arbeitskräfte zu gelangen. Somit spielt es keine Rolle, wo die Industrie sich niederläßt: früher oder später greift sie auf bereits vorhandene Städte über oder schafft neue. Sie verläßt den jeweiligen Standort wieder, sobald dies im Interesse des betreffenden Industriebetriebs liegt. Ebenso wie sich die politische Stadt lange der halb friedlichen, halb gewaltsamen Eroberung durch die Händler, den Austausch und das Geld widersetzte, ebenso wehren sich die politische und die Handelsstadt gegen die sich bildende Industrie, das Industriekapital und den Kapitalismus überhaupt. Mit welchen Mitteln? Mit Hilfe des Korporativismus, der Festlegung der gegenseitigen Beziehungen. Die historische Kontinuität und der Evolutionismus verdecken die Auswirkungen dieser Mittel und die durch sie verursachten Brüche. Welch sonderbare und bemerkenswerte Bewegung ist es, die hier das dialektische Denken erneuert: Die Nicht-Stadt und die Anti-Stadt erobern die Stadt, durchdringen sie und führen – indem sie sie sprengen und ins Maßlose aufblähen – letztlich zur vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft, wobei das Stadtgewebe die Reste der vor der Industrie bestehenden Stadt überdeckt. Daß eine so außergewöhnliche Bewegung so unbeachtet bleibt und nur bruchstückartig beschrieben ist, geht auf das Bestreben der Ideologen zurück, auf dialektisches Denken und die Analyse von Widersprüchen zu verzichten und sich ausschließlich dem logischen Denken zuzuwenden. Das heißt, man stellt Zusammenhänge fest und sonst nichts. Die urbane Realität, die an Umfang gewonnen hat und jeden Rahmen sprengt, verliert in dieser Bewegung die ihr in der vorausgegangenen Epoche zugeschriebenen Eigenschaften: organisches Ganzes, Zugehörigkeit, begeisterndes Bild, ein von glanzvollen Bauwerken abgemessener und beherrschter Raum zu sein. Inmitten der Auflösung städtischen Wesens treten Zeichen des Urbanismus auf. Die städtische Wirklichkeit wird Befehl, unterdrückende Ordnung, Markierung durch Signale, wird summarische Verkehrsordnung und Verkehrszeichen. Bald wirkt sie wie ein Entwurf ins Unreine, bald wie eine autoritäre Botschaft. Sie setzt sich mehr oder weniger gebieterisch durch. Kein beschreibender Ausdruck erfaßt den historischen Prozeß in seiner Gänze: Implosion – Explosion (eine Metapher, aus der Atomphysik), also ungeheure Konzentration (von Menschen, Tätigkeiten, Reichtümern, von Dingen und Gegenständen, Geräten, Mitteln und Gedanken) in der städtischen Wirklichkeit, und ungeheueres Auseinanderbersten, Ausstreuung zahlloser und zusammenhangloser Fragmente (Randgebiete, Vororte, Zweitwohnungen, Satellitenstädte usw.).

      Die Industriestadt, häufig eine formlose Stadt, eine Agglomeration von kaum städtischem Charakter, ein Konglomerat, ein Ineinanderübergehen von Städten und Ortschaften – wie etwa im Ruhrgebiet – geht dieser kritischen Zone voraus und kündigt sie an. An diesem Punkt zeigen sich sämtliche Auswirkungen der Implosion – Explosion. Das Wachstum der Industrieproduktion überlagert die Zunahme der Handelsbeziehungen, vervielfacht sie. Dieses Wachstum umfaßt den Tauschhandel ebenso wie den Weltmarkt, reicht vom einfachen Handel zwischen zwei Personen bis zum Austausch von Erzeugnissen, von Werken, von Gedanken und menschlichen Wesen. Kauf und Verkauf, Ware und Markt, Geld und Kapital scheinen alle Hindernisse hinwegzufegen. Während der Prozeß alles erfaßt, wird seine Auswirkung – die städtische Wirklichkeit nämlich – ihrerseits Ursache und Sinn. Das Induzierte wird beherrschend (induziert selbst). Die urbane Problematik erfaßt die gesamte Erde. Läßt sich die städtische Wirklichkeit als Überbau verstehen, der dachähnlich das wirtschaftliche, kapitalistische oder sozialistische Gefüge überdeckt? Oder einfach als Resultat des Wachstums und der Produktivkräfte? Als bescheidene Wirklichkeit, als Randerscheinung der Produktion? Nein. Die Wirklichkeit der Stadt ändert die Produktionsverhältnisse, ohne jedoch einen echten Wandel herbeiführen zu können. Sie wird, gleich der Wissenschaft, zur Produktivkraft. Raum und Raumpolitik sind »Ausdruck« der Gesellschaftsbeziehungen und wirken sich auf sie aus. Selbstverständlich findet die städtische Wirklichkeit, die zum beherrschenden Element wird, erst durch die Problematik der Verstädterung ihren Ausdruck. Was tun? Wie sollen die Städte oder das »Etwas«, das an die Stelle der einstigen Stadt treten könnte, aussehen? Wie muß das Phänomen der Verstädterung verstanden werden? Wie soll es formuliert, klassifiziert werden, in welcher Reihenfolge sollen

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