Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre

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Die Revolution der Städte - Henri Lefebvre eva taschenbuch

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brauchen wohl nicht weiter auf den weltweiten Autonomieverlust der Agrarproduktion in den großen Industrieländern hinzuweisen, darauf, daß sie weder der wichtigste Wirtschaftssektor mehr ist, noch auch ein Sektor mit hervorstechenden Merkmalen (es sei denn dem der Unterentwicklung). Wenn auch lokale und regionale Eigenarten aus einer Zeit, als die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig war, nicht verschwunden sind, gewisse Unterschiede hier und da sogar schärfer hervortreten, so läßt sich dennoch nicht leugnen, daß die Agrarproduktion zu einem Sektor der Industrieproduktion geworden ist und sich deren Forderungen und Zwängen unterwirft. Wirtschaftswachstum und Industrialisierung – Ursache und oberste Daseinsberechtigung zugleich – ziehen Landstriche, Länder, Völker und Kontinente in ihren Bann. Das Ergebnis: Die für das bäuerliche Dasein typische traditionelle Gemeinschaft, das Dorf, wandelt sich; es geht in größeren Einheiten auf oder wird von ihnen überdeckt. Der Industrie angegliedert, konsumiert es deren Erzeugnisse. Hand in Hand mit der Konzentration der Bevölkerung geht die Konzentration der Produktionsmittel. Das Stadtgewebe beginnt zu wuchern, dehnt sich aus und verschlingt die Überbleibsel des ländlichen Daseins. Mit »Stadtgewebe« ist nicht nur, im strengen Sinn, das bebaute Gelände der Stadt gemeint, vielmehr verstehen wir darunter die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes. Mehr oder weniger dicht und aktiv, spart es nur stagnierende oder im Verfall befindliche Gebiete aus, eben die der »Natur« vorbehaltenen. Für die Agrarproduzenten, die »Bauern«, zeichnet sich am Horizont die Agrarstaat ab, das einstige Dorf verschwindet. Chruschtschow hatte den sowjetischen Bauern die Agrarstadt versprochen, und hier und da auf der Erde entsteht sie bereits. So gibt es in den Vereinigten Staaten – von gewissen Gebieten in den Südstaaten abgesehen – praktisch keine Bauern mehr; es gibt nur Inseln ländlicher Armut neben solchen städtischen Elends. Und während dieser weltweite Prozeß (Industrialisierung und/oder Verstädterung) seinen Lauf nimmt, birst die Großstadt auseinander, fragwürdige Protuberanzen entstehen: Vororte, Wohnviertel oder Industriekomplexe, Satellitenstädte, die sich kaum von verstädterten Marktflecken unterscheiden. Kleinstadt und mittelgroße Stadt geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis, werden praktisch zu Kolonien der Großstadt. Somit drängt sich unsere Hypothese als Endpunkt bislang erworbener Kenntnisse und zugleich als Ausgangspunkt für eine neue Untersuchung und einen neuen Entwurf auf: die vollständige Verstädterung.

      Die Hypothese greift vor. Sie projiziert die Grundtendenz der Gegenwart in die Zukunft. Überall und mitten in der »bürokratisch gelenkten Konsumgesellschaft« wächst die »verstädterte Gesellschaft« heran.

      Das negative Argument, die Gegenprobe durch das Absurde: keine andere Hypothese, die taugen, keine, die sämtliche Probleme erfassen würde. Die nachindustrielle Gesellschaft? Das heißt eine Frage aufwerfen: Was kommt nach der Industrialisierung? Die Freizeitgesellschaft? Das heißt, sich mit einem Teil des Problems zufriedenzugeben, man beschränkt die Untersuchung von Tendenzen und Möglichkeiten auf die »Ausrüstung«, womit man realistisch bleibt, ohne dabei den demagogischen Charakter der Definition zu beeinträchtigen. Gewaltiger und endlos ansteigender Konsum? Hier begnügt man sich mit der Erfassung der Zeitzeichen und extrapoliert, riskiert es so, Realität und Virtualität auf einen einzigen ihrer Aspekte zu reduzieren. Und so weiter. Der Ausdruck »verstädterte städterte Gesellschaft« entspricht einem theoretischen Bedürfnis. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine literarische oder pädagogische Darstellung, noch auch um die Formulierung erworbenen Wissens, sondern um eine Entwicklung, eine Untersuchung, ja um eine Begriffsbildung. Ein Denkvorgang auf ein bestimmtes Konkretes, vielleicht sogar das Konkrete überhaupt hin, zeichnet sich ab und nimmt Gestalt an. Diese Bewegung wird, wenn sie sich bestätigt, zu einer neu ergriffenen oder wieder aufgegriffenen Praxis, der städtischen Praxis, führen. Ohne Zweifel ist eine Schwelle zu überwinden, bevor man auf konkretes Gebiet, also auf das – zuvor theoretisch erfaßte – der sozialen Praxis vorstößt. Es geht nicht darum, ein empirisches Rezept zu suchen, um das Produkt, nämlich die städtische Wirklichkeit, zu fabrizieren. Aber gerade das erwartet man doch allzu häufig vom »Urbanismus«, und gerade das versprechen die »Städteplaner« nur allzuoft. Im Gegensatz zu einer feststellenden Empirie, zu abenteuerlichen Extrapolierungen, als Gegensatz schließlich zu einem angeblich verdaulichen, weil tröpfchenweise mitgeteilten Wissen, ist da eine Theorie, die sich vermittels theoretischer Hypothese ankündigt. Diese Suche, diese Entwicklung wird in methodischen Schritten vor sich gehen. So trägt zum Beispiel die Suche nach einem virtuellen Objekt, der Versuch, dieses zu definieren und an Hand eines Projektes zu verwirklichen, schon einen Namen. Neben klassischen Methoden wie der Deduktion und der Induktion haben wir die Transduktion (Reflexion über das mögliche Objekt). Somit ist der hier eingeführte Begriff der »verstädterten Gesellschaft« eine Hypothese und eine Definition zugleich. Desgleichen werden wir, uns dabei des Ausdrucks »Revolution der Städte« bedienend, im folgenden darunter die Gesamtheit der Wandlungen und Veränderungen zu verstehen haben, die unsere heutige Gesellschaft durchschreitet, um von einer Epoche, deren maßgebliche Probleme Wachstum und Industrialisierung (Modell, Planung, Programmierung) sind, zu jener überzugehen, wo die durch Urbanisierung entstandenen Probleme den Vorrang haben und die Suche nach den Lösungen und nach den für die verstädterte Gesellschaft spezifischen Modalitäten größte Bedeutsamkeit gewinnt.

      Manche Umwälzungen werden abrupt vor sich gehen, andere allmählich, vorgeplant, erwartet und konzertiert sein. Welche? Man wird versuchen müssen, eine so berechtigte Frage zu beantworten. Es gibt allerdings keine Gewähr dafür, daß die Antwort klar, befriedigend und eindeutig sein wird. Der Ausdruck »Revolution der Städte« deutet nicht unbedingt auf gewaltsame Aktionen hin. Ausgeschlossen sind sie allerdings nicht. Wie aber sollte man voraussagen können, was auf gewaltsame, was auf vernünftige Weise erreicht werden wird? Ist es nicht das Wesen der Gewalttätigkeit, unvermittelt zum Ausbruch zu kommen? Und ist es nicht das Wesen des Denkens, Gewalttaten auf ein Minimum zu beschränken, indem es denkend die Fesseln bricht?

      Zwei Marksteine stehen auf dem Weg, den der Urbanismus einschlagen wird:

      a) Seit einigen Jahren betrachtet man vielerorts den Urbanismus als eine soziale Praxis wissenschaftlichen und technischen Charakters. In diesem Fall könnten und müßten die theoretischen Überlegungen sich auf diese Praxis erstrecken, sie auf ein begriffliches oder, genauer, auf ein epistemologisches Niveau heben. Folglich ist das Nichtvorhandensein einer solchen Epistemologie des Urbanismus auffallend. Werden wir nun hier versuchen, diese Lücke zu schließen? Nein. Denn diese Lücke hat einen Sinn. Stimmt es nicht, daß das, was wir Urbanismus nennen, vorerst noch mehr institutionellen und ideologischen als wissenschaftlichen Charakter trägt? Wenn wir annehmen, daß das Verfahren zu verallgemeinern und jede Erkenntnis nur über die Epistomologie zu gewinnen sei, so scheint das für den heutigen Urbanismus dennoch keine Geltung zu haben. Man wird herausfinden und erklären müssen, warum dem so ist.

      b) Der heutige Urbanismus – als Politik (in zweifachem Sinn als Institution und Ideologie) – wird von zwei Seiten her angegriffen, von der Rechten wie von der Linken.

      Die Kritik der Rechten, von jedermann beachtet, ist zuweilen vergangenheitsgläubig, oft humanistisch. Sie beinhaltet und rechtfertigt, direkt oder indirekt, eine neo-liberale Ideologie – die »freie Marktwirtschaft« – und fördert in jeder Weise die »Privat«-Initiative der Kapitalisten und ihres Kapitals. Die Kritik der Linken – und das ist weniger bekannt – wird nicht von der einen oder anderen Gruppe oder Partei, dem einen oder anderen Klub, Apparat oder den der Linken »zugerechneten« Ideologen formuliert. Sie ist vielmehr bemüht, dem Möglichen einen Weg freizumachen, Neuland zu erforschen und zu markieren, wo es nicht nur das »Wirkliche«, das bereits Erreichte gibt, das nicht schon von den vorhandenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kräften beherrscht ist. Sie ist daher eine u-topische Kritik, denn sie distanziert sich vom »Wirklichen«, ohne es jedoch aus den Augen zu verlieren.

      Nachdem dies gesagt ist, wollen wir eine Achse zeichnen,

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