Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann

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Erinnerung an meine Jahre in Berlin - Sammy Gronemann

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auf der prachtvollen Strandpromenade, dem Nikolai-Boulevard und Alexanderpark waren anziehend genug. Mit Erstaunen bemerkte ich im jüdischen Restaurant, daß die Jugend dort im allgemeinen weder Hebräisch noch Jiddisch verstand, sondern ganz russifiziert war. Es ist ein eigenartiges Gefühl, im Gewühl herumzuspazieren, wenn man kein Wort der Landessprache versteht, und es war für mich ein interessanter Sport, mit Hilfe meiner Sprachführer, und noch mehr durch Pantomime, mich mit allerhand Leuten zu unterhalten. In dem sehr eleganten Hotel, in dem ich abgestiegen war, sprach man freilich deutsch, französisch, englisch und jiddisch. Ich stand morgens vor dem Hotel und sah mir das Treiben an, als der Geschäftsführer dienstbeflissen an mich herantrat, ob er mir bei Einkäufen behilflich sein könne, ob er mir einen Wagen besorgen solle oder vielleicht Theaterbillets, ob ich weibliche Gesellschaft auf’s Zimmer wünsche (unter „Commodité“ auf Rechnung zu setzen). Er war recht enttäuscht, als ich auf keinen dieser verlockenden Vorschläge einging, und grübelte angestrengt, was er mir noch offerieren könne. Endlich kam ihm eine Erleuchtung: „Haben Sie schon Schekel gezahlt?“ – Der Mann hatte eben alles auf Lager. – Nachdem ich von Odessa genug hatte, fuhr ich nach Rumänien über die Grenzstation Ungheni, vorbei an Kischineff, das traurige Erinnerungen an den Progrom von 1903 erweckte. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines ungarischen höheren Eisenbahnbeamten, eines alten Junggesellen, der sich als Lebemann aufspielte und mir allerhand seltsame galante Erlebnisse, die er in Berlin gehabt haben wollte, erzählte. Ich habe ihm wie noch zu berich­ten ist, später auch ein erstaunliches, kleines Abenteuer verschafft. – In Russisch Ungheni im Wartesaal geschah es, als ich zur Verständigung mit dem Kellner in einem Polyglott Kunze blätterte, daß der Kellner hinter das Büffet sprang und nun auch mit dem gleichen Sprachführer – bloß russisch-deutsch statt deutsch-russisch – erschien, wonach dann die Verständigung leicht vor sich ging. – Nun fuhren wir mit der kleinen Vicinalbahn zu dem eine Stunde entfernten rumänischen Ungheni. Kurz vor der Station hielt auf offener Strecke der Zug, und über das Feld kamen mehrere in Zivil gekleidete Herren, gefolgt von einigen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Die Herren gingen den Zug entlang, ließen sich die Pässe zeigen, auf die sie irgendeinen Stempel drückten und zurückgaben. So geschah es auch im letzten Abteil mit meinem Reisegefährten. Meinen Paß aber sah sich der Beamte mißtrauisch an und fragte mich, woher ich käme. Ich sagte: „Von Iskorost.“ – „Wo liegt das?“, fragte er. (Die Unterhaltung wurde französisch geführt). Ich sagte: „Bei Korostyn.“ Auch dieser Ort war ihm erstaunlicherweise unbekannt. „Und wo liegt das?“ – Ich sagte: „Bei Uschomir.“ – Er blieb eine Weile nachdenklich und stellte dann die erstaunliche Frage: „Haben Sie schmutzige Wäsche?“ Ich antwortete ahnungslos: „Ja, natürlich.“ – „Gut“, sagte er, und statt mir meinen Paß zurückzugeben, gab er ihn einem Soldaten und erklärte mir: „Auf der Station werden Sie ihre Anweisungen für die Quarantäne erhalten.“ Ich bekam keinen kleinen Schreck, – meine Verulkung hatte schlechte Wirkungen hervorgerufen – aber schon hatte er sich umgedreht, gab auf rumänisch dem Soldaten Anweisungen, und einer der Krieger stellte sich auf das Trittbrett vor meinem Fenster, während der Herr sich, höflich den Strohhut lüftend, entfernte. Wenige Minuten darauf standen wir in der Station, und mein militärischer Begleiter lieferte mich im Stationsbüro ab. Dort saß ein korrekter Herr, der mich den Koffer öffnen ließ, ihn durchsah und dann erklärte: „Sie werden unter Eskorte nach Bukarest kommen in das Spital, und nach drei Tagen, wenn sich nichts Verdächtiges zeigt, werden Sie entlassen.“ – Ich versuchte, ihm das auszureden, aber er erklärte: „Mein Herr, meine Vorschriften sind streng. Ich kann davon nicht absehen.“ Ich sah, daß ich es anders versuchen mußte. Den Weg der Korruption zu beschreiten, traute ich mich damals nicht, – ich sagte: „Also gut, dann ist nichts zu machen, wenn Ihre Instruktionen so formell sind. Aber sagen Sie mir bitte, was haben Sie dort für einen Kachelofen?“ Er war nun seinerseits recht erstaunt und fragte mich, wieso mich das interessiere. Ich erklärte ihm, ich wäre Korrespondent großer Berliner Zeitungen und sammle folkloristisches Material. Ich würde natürlich auch über die Ergebnisse hier interessante Berichte schreiben. Er stutzte etwas. Offenbar war es ihm nicht ganz recht, wenn ich von Grenzschikanen berichten würde. Aber ich ließ ihm gar keine Zeit, sondern verwickelte ihn in ein allgemeines Gespräch. Nach einigen Minuten saßen wir am Tisch, und ich erzählte unaufhörlich allerhand Anekdoten. Er hatte sich wohl an diesem Posten lange nicht so gut unterhalten, und wir waren bald gute Freunde. Als dann der Zug nach Bukarest einlief und meine Wache mich in Empfang nehmen wollte, sagte ich, ihm nun auf die Schulter klopfend: „Nun, jetzt sind wir doch gute Freunde. Können Sie wirklich nichts für mich tun?“, worauf er lachte, dem Soldaten den Paß abnahm und mir gute Reise wünschte. Ich sah wieder einmal, daß man mit Humor und guten Witzen oft die schwierigste Situation überstehen kann. Mein Reisegefährte, der ungarische Beamte, war sehr glücklich, mich wieder zu sehen. Wir machten Station in Jassy. Wir kamen dort 2 Uhr mittags an, und unser Zug ging erst abends um 6 Uhr weiter. In einem Caféhaus erfrischten wir uns, – es war ein glühendheißer Tag. Ich fragte den bedienenden Kellner, wie es Dr. Lippe gehe (dem Alterspräsidenten des I. Kongresses) und erhielt befriedigende Auskunft. Mein Reisegefährte, Herr Komarow, war erstaunt, daß ich auch in Jassy Bekannte hatte. Aber er sollte noch mehr erstaunen. Ich trennte mich von ihm, da ich das Judenviertel besichtigen wollte, und wir verabredeten ein Treffen am Bahnhof kurz vor sechs. Ich wanderte nun durch das Judenviertel, Straßen auf Straßen voll Trödlerläden. Ich hatte den Eindruck, daß die Juden von Jassy davon leben, daß sie sich gegenseitig alte Hosen verkaufen. Dann bestieg ich die Straßenbahn, um auch andere Teile der Stadt zu besichtigen. Neben mir saß eine höchst anziehende junge Dame. Ich hielt meinen Reiseführer aufgeschlagen in der Hand und fragte naiv, als wir an einer schmutzigen, zerfallenen Kaserne vorbeikamen, ob das die Kathedrale sei. Sie war ziemlich verblüfft und versuchte, mich aufzuklären. Als ich dann aber, als wir an einer stattlichen Kirche vorbeikamen, auf meinen Plan deutend frug, ob das die Kaserne sei, gingen ihr die Augen auf, und sie fragte mich, ob ich sie verulken wolle. Ich sagte entrüstet: „Ich kann mir nicht denken, daß Sie das jetzt erst merken.“ Sie meinte: „Wenn Sie die Stadt sehen wollen, müssen Sie sich einen Wagen nehmen und sich führen lassen.“ – „Also führen Sie?“, sagte ich. Sie lachte, – und bald saßen wir in einem Wagen und begannen eine Rundfahrt, bei der sie mir die nicht allzu zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigte. Diese Wagenfahrt war in jeder Beziehung ein Genuß. So herrliche Pferde wie hier und in Bukarest habe ich kaum je gesehen, und die Kutscher, feist und glattrasiert, – durchweg Eunuchen – in den samtenen langen Kitteln mit den seidigen Schärpen bilden eine Sehenswürdigkeit für sich. Sie bilden eine besondere Sekte unter dem Namen „Lipovaren.“ Auf dieser Fahrt kamen wir gleich zu Anfang an einem Gartenlokal vorbei, und dort saß eine große Gesellschaft von jungen Leuten und Damen an langen Tischen. Als sie des Wagens und meiner Begleiterin ansichtig wurden, entstand ein großes Hallo, der Wagen wurde angehalten, man umringte uns, und erst allmählich entnahm ich dem Gesprächswirrwarr, daß es eine Gesellschaft von Studenten der Universität und daß meine Begleiterin eine Assistenzärztin eines dortigen Professors war. Sie erzählte ihrer Gesellschaft, wie sie an mich geraten war, und die jungen Leute beschlossen, alle mir die Eskorte zu geben. Sie bestiegen die wartenden Wagen, und so kam es, daß ich vor sechs an der Spitze einer großen Wagenprozession vor dem Bahnhof landete, wo mich Herr Komarow erwartete. Er war ziemlich erstaunt, daß ich so schnell Bekanntschaft in Jassy gefunden hatte. Ich stellte den alten Herren als meinen Onkel vor und erklärte ihm, daß die Damen der Gesellschaft alles meine Cousinen, also auch seine Verwandten seien, und er war ganz erstarrt, als die jungen Damen ihn umringten und abküßten. – Daß meine Depression sich inzwischen einigermaßen gegeben hatte, geht aus dieser Erzählung vielleicht zur Genüge hervor.

      Ich kam also dann nach Bukarest. Die Stadt bot damals nicht entfernt das glänzende Bild, das sich mir Jahrzehnte später präsentierte, und trotz des interessanten halborientalischen Lebens, des glanzvollen Korsos auf der „Chaussee“, des Betriebes in der „Flora“, mißfiel sie mir eigentlich eher. Sie hatte zwar einige reizende Partien, aber im ganzen wimmelte die Stadt von architektonischen Scheußlichkeiten und geschmack­­losen Denkmälern. Reizvoll war das Getriebe der Zigeuner. Wenn man einem von den schmutzpatinierten Buben etwas schenkte, konnte man Straßen lang die bettelnde Schar der Jungen nicht loswerden. Ich machte mich bald davon und blieb zwei Tage in dem reizend gelegenen Herkulesbad. Vergeblich forschte ich dort in den zahlreichen jüdischen Läden, wo es ein rituelles

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