Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann

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Erinnerung an meine Jahre in Berlin - Sammy Gronemann

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Rabbiner als Sachverständiger abgeändert, indem das Gericht das vereinbarte Honorar wegen Wertminderung der geleisteten Arbeit herabsetzte.

      Ein besonders schwieriges Problem, das mehrfach an mich herantrat, war es, die minutiösen Bestimmungen talmudischen Rechts in Ehesachen dem Verständnis arischer Richter nahezu bringen. Dabei handelte es sich natürlich immer um die Ehen nichtdeutscher Parteien. Besonders spielte da eben jener Cherem des Rabbenu Gerschon eine Rolle. Das durch diesen Cherem ausgesprochene Verbot der Doppelehe kann durch die Entscheidung von 100 Rabbinen aus drei verschiedenen Ländern aufgehoben, damit also dem Ehemann eine zweite Ehe gestattet werden. Diese Manipulation habe ich nun mehrfach durchgeführt. Es handelte sich dann immer darum, daß die erste Ehefrau die Annahme des Scheidebriefes verweigerte. Ich mußte nun der Behörde klarmachen, daß damit eine nach talmudischem Recht gültige Ehescheidung vollzogen sei, sobald das Rabbinat in dem russischen Heimatort des Mannes das Verfahren durch Urteilsspruch bestätigte. Das Standesamt weigerte sich zunächst, dies anzuerkennen, und meine Beschwerde ging den Instanzenzug bis zum Justizminister. Nach Einholung vieler Gutachten erließen schließlich der Justizminister und der Innen­minister eine Verfügung, wonach mein Standpunkt anerkannt und das Standesamt Charlottenburg-Wilmersdorf, vor dem seinerzeit die Ehe geschlossen war, angewiesen wurde einzutragen, daß die Ehe durch rabbinisches Urteil geschieden sei, – ein bis damals unerhörter Vorgang. Der Mann heiratete nun auf’s neue, aber die erste Ehefrau strengte einen Prozeß an mit dem Antrag, die Scheidung und die zweite Ehe für nichtig zu erklären. Sie wurde mit der Klage abgewiesen. Aber nun kam das Erstaunliche: Jetzt klagte die zweite Frau nach einiger Zeit auf Auflösung ihrer Ehe, da die erste Ehe noch zu Recht bestände, und die Scheidung ungültig sei. Auch dieser Prozeß wurde zu Gunsten des Ehemannes entschieden.

      Nach einigen Jahren hatte ich genau denselben Fall, holte wieder die Zustimmung der 100 Rabbinen ein und erreichte wieder, daß die Scheidung anerkannt wurde, und wieder klagte die erste Frau; deren Anwalt war diesmal der bekannte sozial­demokratische Politiker Wolfgang Heine, und in der Verhandlung ließ er sich mit großer Empörung über dieses Verfahren aus und erklärte mit Emphase, ein solcher Fall wäre noch nicht dagewesen, und kein deutscher Jurist könne es billigen und ihm zustimmen. Darauf konnte ich nicht nur darauf hinweisen, daß es bereits in dem von mir geschilderten Fall ein Präjudiz gäbe, sondern ich konnte jene ministerielle Verfügung produzieren, unter der der Name des Innenministers prangte, der niemand anders war als eben Herr Wolfgang Heine, der damals dieses Amt bekleidet hatte. – Herr Heine war zunächst äußerst verblüfft, machte aber dann gute Miene zum bösen Spiel, lachte herzlich und beglückwünschte mich zu dieser merkwürdigen Chance, die mir in den Schoß gefallen war. Natürlich fiel seine Klientin denn auch mit ihrem Prozeß ab.

      Die Divergenzen zwischen deutschem, jüdischem und russischem Recht führten oft zu merkwürdigen Kombinationen. Da hatten zwei junge Leute in Deutschland sich nur rabbinisch trauen lassen. Das hatte gesetzlich an sich keinerlei Wirkung, war sogar verboten. Wenn aber bei dem zuständigen russischen Gericht später diese Eheschließung registriert wurde, war das eine nach russischem zaristischem Recht gültige Eheschließung, und die Ehe datierte von dem Tage der rabbinischen Trauung in Berlin an. Da geschah nun folgendes: Einige Monate nach jener also zunächst ungültigen Eheschließung fuhr der Ehemann in seinen Heimatort nach Rußland und ließ die Registrierung vornehmen. Damit war die Ehe also rechtsgültig, und nach den bestehenden Verträgen mußte sie nun auch in Deutschland anerkannt werden, so daß das Paar von seiner Trauung an als legales Ehepaar galt. Als aber der junge Ehemann wieder nach Berlin kam, fand er, daß seine Frau inzwischen vor dem Standesamt einen anderen geheiratet hatte, was sie ja auch nach deutschem Recht tun konnte, solange die Ehe nicht in Rußland legalisiert war. Auf diese Weise hatte die Frau nun zwei ihr gesetzlich angetraute Ehemänner. Es entstand jetzt ein Streit zwischen den beiden glücklichen Gatten, bei dem jeder der beiden Ehemänner den andern an Großmut zu übertreffen suchte, indem er ihm die Frau überließ, also behauptete, nicht er, sondern der andere sei der rechte Ehemann. Bevor ich, um ein Gutachten angegangen, damit zustande kam, erledigte sich der Fall dadurch, daß die Frau mit einem dritten Mann durchging, und beide Ehemänner schienen jegliches Interesse verloren zu haben.

      Ein jüdischer Restaurateur wollte in dem ostjüdischen Viertel um die Dragonerstraße herum ein rituelles Restaurant eröffnen. Der Polizeipräsident verweigerte die Konzession mit der Begründung, daß in dieser Gegend schon genügend Gastwirtschaften vorhanden seien, und er die Bedürfnisfrage verneinte. Ich klagte beim Bezirksausschuß gegen den Polizeipräsidenten mit der Begrün­dung, daß es sich hier um eine Gaststätte besonderer Art, nämlich um ein rituelles Restaurant handle. In der Verhandlung las mir der Vorsitzende Stadtrat Schulz eine von ihm eingeforderte Auskunft der Berliner Jüdischen Gemeinde vor, in der Herr Dr. Ismar Freund als Vertreter der Gemeinde erklärte, der betreffende Restaurateur stände nicht unter Aufsicht der Gemeinde, so daß also der Betrieb von ihr aus nicht als rituell bezeugt werden könne. „Ja“, sagte der Herr Stadtrat, „damit entfällt Ihre Begründung, Herr Rechtsanwalt.“ Ich stutzte einen Moment, denn wie sollte ich diesem christlichen Richter klarmachen, daß es rituelle Betriebe geben könne, ohne daß die Aufsicht eines Gemeinderabbinats existiere. Ich half mir, indem ich sagte: „Herr Stadtrat, ich werde Ihnen eine Analogie geben. Es gibt doch eine Menge junger Mädchen, die nicht unter Kontrolle stehen und auch sehr nett sind.“ – Dieses Beispiel leuchtete ihm ein, und mein Klient erhielt eine Konzession.

      VI.

      Im Sommer 1909 fuhr ich mit meiner Frau zu deren Eltern auf die „Datsche“ im ukrainischen Urwald. Wir kamen auf der kleinen Station Korostyn zwischen Kowel und Kiew in sehr früher Morgenstunde an. Dort, an dem Verladeplatz des Holzes aus dem Walde meines Schwiegervaters, wurden wir mit einem prächtigen Frühstück empfangen und fuhren dann einige Stunden durch den märchenhaften Wald zu dem Landhaus. Das lag nun also stundenweit von jeder Siedlung entfernt, ganz einsam, und nur die Familie nebst Dienerschaft, die in einem besonderen Hause wohnte, bildeten meinen Umgang. Für mich war das ein vollkommen neues und unbekanntes Leben. Nie war ich in eine derartig enge Berührung mit der Natur gekommen, und ich wanderte staunend zwischen dem Baumriesen umher. Schon morgens ganz früh in Tallis und Tefillen erging ich mich in einem merkwürdigen Wohlgefühl, so ungestört mich als Jude der „Welt“ präsentieren zu können. Vor der Tür auf der Terrasse wurde schon der Samowar gezündet, der den ganzen Tag brannte, und an den sich jeder Ein- und Ausgehende im Vorübergehen selbst bediente. Herrlich war es, vor dem Hause zu frühstücken, dabei die fleißigen Spechte und Meisen in ihrer Arbeit an den Bäumen zu beobachten, und wie nett war es, wenn etwa Eichhörnchen aus dem Walde heranhüpften und zutraulich am Frühstück teilnahmen. Welche Freude für die Kinder, wenn solch ein Tierchen ihnen auf die Schultern kletterte. Ich bewunderte die riesigen Ameisenhaufen und sonstige Fauna des Waldes, und bei den langen Spaziergängen traf ich kaum jemals einen Menschen. Ja, einmal stieß ich auf einen alten russischen Bauern, der mich freundlich begrüßte. Da ich kein Wort russisch verstand, half ich mir pantomimisch und gab ihm eine Zigarre, die er zu meiner Verblüffung grinsend und mit Wohlbehagen – zu verspeisen begann. In diese Weltabgeschiedenheit war offenbar noch nie eine Zigarre gelangt. – Alles dort war mir neu. Ich hatte eben der Natur nie so unmittelbar gegenübergestanden wie in jener Zeit. War ich doch in der Großstadt aufgewachsen, und hatte ich doch kaum je Gelegenheit gehabt, die Welt wirklich, wie sie Gott geschaffen hat, kennenzulernen. Hier befand ich mich mitten in einem jungfräulichen Wald. Er war wundervoll, gewaltig, herrlich schön, – ich empfand ja die Schönheit und die Majestät der Natur, aber ich weiß nicht, was es war, es sprengte mir fast das Herz. Ich war überwältigt und wurde regelrecht melancholisch. Ich verlor meinen gesunden Schlaf, meine Laune, entlief fast immer meiner Umgebung und streckte mich einsam irgendwo im Walde hin, unfähig zu denken, ganz und gar mich dieser rätselhaften Depression hingebend. Die Meinen waren recht beunruhigt, und meine sehr gescheite Schwiegermutter erklärte, daß sie das nicht länger mit ansehen könnte, ich würde da vollkommen gemütskrank, und wir beschlossen, daß ich den auf Monate berechneten Aufenthalt abbrechen und auf Reisen gehen sollte.

      Meine Reise ging zunächst über Kiew nach Odessa. Stundenlang fährt man da durch die Steppe, ohne ein Haus, oft auch nur einen Baum zu sehen,

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