Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann
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Der letzte Tag des Jahres brach an, und so hatte man nicht nach dem Silvesterabend, sondern vor ihm einen gehörigen Katzenjammer. Eine ziemlich verbreitete Anschauung war, daß David Wolffsohn den Gang der Ereignisse vorausgesehen und vielleicht auf dieses Ergebnis hingearbeitet hatte. Nach meiner Auffassung lag die Sache folgendermaßen: Nachdem Wolffsohn auf dem Kongreß einen so überaus starken Eindruck gemacht hatte, – zur größten Überraschung seiner Gegner und der von ihnen beeinflußten Menge – schlug man, um ihn zu beseitigen, eine ganz andere neue Taktik ein. Der Angriff richtete sich jetzt nicht mehr sowohl gegen seine Person als – gegen die Stadt Köln. Das, was vorher nur ein nebensächliches Argument gewesen war, daß nämlich der Sitz der Exekutive nicht mehr in einer Provinzstadt aufrechterhalten werden könne, wurde jetzt in den Vordergrund geschoben. So kam man denn zu der Formel, daß man gegen das Präsidium von Wolffsohn von dem Moment an nichts mehr einzuwenden haben würde, indem er sich entschließen würde, nach Berlin zu übersiedeln. Man glaube, sicher zu sein, daß er diese Bedingung ablehnen würde, und Wolffsohn tat alles, um die Delegierten in dieser Ansicht zu bestärken. Denn er wußte sehr wohl, daß, wenn er jetzt etwa seine Bereitwilligkeit, nach Berlin zu ziehen, ausdrücken würde, dann sofort der Kampf gegen seine Person neu einsetzen würde. Im Stillen aber dachte er wohl daran, wenn erst der Kongreß auf jene Formel sich festgelegt haben würde, dann nach einiger Zeit doch die Übersiedlung vorzunehmen und so den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dann aber, nachdem er dieses Opfer gebracht haben würde, würde seine Position nahezu unerschütterlich geworden sein.
Das alles ist natürlich nur meine persönliche Auffassung. Aber folgende Episode spricht wohl für ihre Richtigkeit: Ich saß eines Abends im Logenhaus in einer Ecke mit Wolffsohn, als plötzlich Bodenheimer mit einer gewissen Feierlichkeit vor ihn trat und fragte: „Herr Präsident Wolffsohn, ich frage Sie noch einmal und erwarte eine präzise Antwort: Ist es für Sie absolut ausgeschlossen, nach Berlin zu gehen?“ – Ich sah gespannt Wolffsohn an. Wolffsohn unterdrückte, glaube ich, ein unhöfliches Wort, biß sich auf die Lippen und antwortete nach Sekunden: „Sie kennen meine Erklärungen. Ich kann an dem, was ich gesagt habe, nichts ändern.“ – Bodenheimer entfernte sich, und ich hatte den Eindruck, daß Wolffsohn leise vor sich hin schimpfte. Ich hatte die Keckheit, ihm zu sagen: „Herr Präsident, ich glaube, Ihr Spiel zu kennen. Sie sind innerlich entschlossen, wenn Sie Präsident bleiben, in Kürze nach Berlin zu ziehen.“ – Wolffsohn wandte überrascht sein Gesicht mir zu, sah mir bedeutsam in die Augen und gab mir schmunzelnd einen kräftigen Rippenstoß, sagte aber kein Wort.
Daß es später anders kam, lag daran, daß Wolffsohn ein halbes Jahr später in Königsberg eine schwere Herzattacke hatte und von da an wußte, daß er seine volle Arbeitskraft nie wiedererlangen würde, und daß seine Tage gezählt wären. Das geschah nach einer recht interessanten Aktionskomitee-Sitzung im Hotel Esplanade in Berlin, in der viele Differenzen ausgetragen wurden und bei der Wolffsohn mehr mit seinen eigentlichen Parteigängern, insbesondere mit Alexander Marmorek, zu kämpfen hatte, als mit den sogenannten „Praktischen“; denn jetzt wurde ihm wieder übelgenommen, daß er allzu wenig Gewicht auf die politische Tätigkeit legte. Wenn David Wolffsohn sich so an das Amt klammerte, geschah das nicht aus persönlicher Eitelkeit oder aus übergroßem Geltungsbedürfnis. Er war fest überzeugt davon, daß in diesem Moment er auf jenem Posten unentbehrlich sei, und sein Abgang eine schwere Gefährdung der Bewegung hervorrufen würde. Er fühlte sich als Wahrer der Erbschaft seines großen Freundes Herzl und hätte es als Felonie betrachtet, wenn er den Posten nicht bis aufs letzte verteidigt hätte. Als die Ärzte ihm dringend rieten, sich von jener zionistischen Arbeit zurückzuziehen, da sie sonst für nichts einstehen könnten, sagte er: „Ich habe keinen Kontrakt gemacht, nachdem ich verpflichtet wäre, 60 Jahre alt zu werden.“
VIII.
Meine Berufstätigkeit entwickelte sich sehr interessant. Von jeher hatte ich eine besondere Vorliebe für Detektiv-Romane und ging gern in den Spuren des Chevalier Dupin (Poe), Sherlock Holmes (Doyle) oder Mr. Lecocq (Gaboriau), deren Ahnherr ja eigentlich Wilhelm Hauffs Jude Abner ist. Ich suchte die bewährten Methoden dieser Helden zu befolgen und erlangte eine gewisse Fertigkeit, die mich in die Lage versetzte, ganz fremden Leuten, die in meine Sprechstunde kamen, von vornherein anzusehen, was sie zu mir führte. Ich erinnere mich z. B., einen wildfremden Mann, der in mein Zimmer trat, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, dadurch in ziemliche Verwirrung gesetzt zu haben, daß ich bemerkte: „Ich gebe zu, daß Sie als Lehrer manchen Versuchungen ausgesetzt sind, aber es ist schlimm, daß Sie sich an den Ihnen vertrauten Kindern in so schwerer Weise vergangen haben.“ Er versuchte zu leugnen, aber als ich ihm sagte, daß ich dann kaum zu solcher Diagnose gekommen wäre, gestand er sein Vergehen. Er wurde dann auch zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt.
Bei diesen meinen Neigungen war es natürlich sehr interessant, als ich eines Tages von einem mir nur dem Namen nach bekannten russischen adligen Latifundienbesitzer ein Telegramm bekam, in dem ich aufgefordert wurde, unverzüglich nach München zu fahren, um die Umstände des Todes des Grafen T. aufzuklären. Ich fuhr sofort in die Bayrische Hauptstadt und arbeitete dort mit Hilfe eines Detektivbüros, und indem ich die Bekanntschaft aller möglichen Leute aus der Umgebung jenes Grafen T. machte, drei Tage lang mit größter Intensität, um dann – eigentlich mit großer Enttäuschung – festzustellen, daß der Graf auf die natürlichste Weise nach einer Operation in der Klinik unter Erweisung aller medizinischen Ehren verstorben war. Ich nahm an, daß mein Auftraggeber ebenso enttäuscht sein würde und berichtete ihm telegraphisch und brieflich über den negativen Erfolg meiner Bemühungen. Zu meinem Erstaunen erhielt ich dann ein überaus befriedigtes und verbindliches Dankschreiben und ein reichliches Honorar. Was eigentlich hinter der Sache steckte, habe ich nie erfahren.
In einem andern Falle aber hatten wir, oder in der Hauptsache Alfred Klee, die Gelegenheit, einen Todesfall, der unter eigentümlichen Umständen erfolgt war, wirklich aufzuklären und damit zwei brave Leute von Elend und Schande zu retten. In einem Harzstädtchen war eine alte Frau gestorben, und es ging in dem Ort das Gerücht um, daß ihre Tochter und deren Mann, angesehene Bürger, sie beseitigt hätten. Besonders war es der Bürgermeister, der mit diesen Leuten verfeindet war, der dieses Gerücht verbreitete und schließlich die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten veranlaßte. Die Leute wurden in Haft genommen und kamen vor das Schwurgericht in Göttingen. Das Verfahren endete damit, daß die beiden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Der Arzt aber, der die alte Frau behandelt hatte, beruhigte sich dabei nicht, überzeugt von der Unschuld der Leute und davon, daß die alte Frau eines natürlichen Todes gestorben war. Er wandte sich an hervorragende Sachverständige in Berlin, und man zog schließlich Alfred Klee zu, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen. Die Aufhebung eines schon rechtskräftig gewordenen Urteils gelingt nur äußerst selten. Klee, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß hier ein Justizmord vorlag, setzte mit ungeheurem Eifer das Wiederaufnahmeverfahren durch, und in der neuen Verhandlung vor dem Schwurgericht erreichte Klee den Freispruch und die vollkommene Rehabilitierung der unschuldigen Angeklagten. Die Leute waren natürlich überglücklich, und die Frau kam eines Tages nach Berlin gefahren, um noch einmal in unserem Büro sich zu bedanken. Sie schilderte eindringlich die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, und schloß ihre Rede mit den bezeichnenden Worten: „Mein guter Engel hat mich schließlich zu Ihnen geführt, und so bin ich endlich in gute christliche Hände geraten.“ Sie war wohl nicht die einzige, welche die Erfahrung machen mußte, daß das, was im allgemeinen unter „guten Christen“ verstanden wird, sich sehr oft gerade unter Juden findet.
Seltsamer