Oval. Elvia Wilk

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Oval - Elvia Wilk

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beobachtete. Die Klausel im Vertrag war eindeutig: Hier spionierte einzig und allein ein maschinell sehender Algorithmus, dessen Aufgabe darin bestand, Anomalien und Worst-Case-Szenarios anzuzeigen. Tornados. Feuer.

      Dieser Mangel an expliziten Anweisungen hatte bereits für einige Verwirrung gesorgt. Als sie frisch eingezogen waren, war Anja jeden Abend mit einem Rucksack voller Bioabfälle und anderem Müll, den sie tagsüber angesammelt hatte, den Berg hinaufgeklettert, um ihn in die Müllentsorgung zu kippen und somit dem Recyclingsystem ihren Gesamtnettomüll zuzuführen. Es war ihr Müll, egal, wo sie ihn produzierte, und sie wollte damit ehrlich umgehen. Doch der Überschuss an Verpackungen, Schalen und Taschentüchern hatte den Abfluss verstopft und die Toilette zum Überlaufen gebracht; Anja verbrauchte weitaus mehr Materie, als das Haus verschwinden lassen konnte.

      »Könntest du das Zeug nicht irgendwo anders wegschmeißen?« fragte Louis sie, während er Klumpen eines übelriechenden Papierbreis aus dem Abfluss in der Küche schöpfte. Er zog einen langen, dicken Streifen blau-braunen Papiers hervor. »Was ist das, eine Einkaufstasche aus der Mall?«

      »Ich habe sie nur benutzt, um meinen Müll zu transportieren. Mein Gott, ist ja nicht so, als hätte ich in der Mall eingekauft.«

      Er starrte sie an, den nassen Streifen hochhaltend. »Du hast eine Tüte aus einem dieser Fast-Fashion-Läden mit nach Hause gebracht, die du nur gebraucht hast, um deinen anderen Müll darin zu transportieren, und hast sie dann in unseren Abfluss gekippt.« »Ja, stimmt. Ich habe die Tüte benutzt. Ergo ist sie auch Teil meiner Abfallproduktion.«

      Er runzelte die Stirn. »Ich glaube, das mit dem Müll gilt nur, wenn du zuhause auf dem Berg bist.«

      »Nein, ich glaube nicht, dass das räumlich begrenzt ist. Es geht um alles, was du, als menschlicher Konsument, in deinem täglichen Leben wegwirfst. Der Punkt besteht doch genau darin, unser Tun vollständig zu kompensieren.« Sie bemerkte, dass sie ihre Hände wie zur Betonung zusammengefaltet hatte. Ohne es zu wollen, blickte sie hoch zur Stelle über den Schränken, wo sich die Kamera befand.

      »Richtig, das steht auf der Webseite. Aber alle wissen, dass wir es nur so aussehen lassen sollen, als würde das Haus funktionieren. Wir versuchen zu beweisen, dass es möglich ist, nachhaltig zu leben und nicht so ein Theater darum zu machen. Das bedeutet, dass du gerade nicht deinen Müll mit dir herumtragen sollst!«

      Anja löste ihre Hände und faltete sie erneut. »Aber den Müll an einem anderen Ort zu entsorgen, ist Schummelei«, sagte sie. »Wenn das Haus nicht mit all meinem Müll klarkommt, dann haben die Designer ihren Job nicht richtig gemacht und sollten die Sache auch beheben.«

      »Die haben ganz offensichtlich ihren Job nicht richtig gemacht, Anja. Nichts funktioniert in diesem verdammten Haus. Ich werde nicht jeden Tag meinen ganzen Müll heimschleppen. Das ist einfach nicht realistisch – willst du, dass ich die Verpackung von meinem Mittagessen aufhebe? Wo hört das auf? Soll ich etwa mit dem Scheißen warten, bis ich nach Hause komme?«

      »Warte mal, wieso ist dein Mittagessen verpackt? Ich habe dir eine Lunchbox gekauft!«

      Am Ende hatte sich Louis’ praktisches Wesen durchgesetzt, wie es das gerne mal tat. Er hatte recht: Anja konnte mit dem Scheißen nicht warten, bis sie zuhause war, und sie konnte auch nicht den Überblick behalten über alles, was sie verbrauchte. Allein der Versuch hatte zu einem ontologischen Zusammenbruch auf der Mikroebene ihres Alltags geführt. Waren Wimpern und Hautzellen gleichzusetzen mit Haargummis und Kaffeebechern? Waren Einweg-Kaffeebecher gleichzusetzen mit einem Becher, der mit Grauwasser aus dem Haus gereinigt werden musste, das hochzupumpen wieder Energie verbrauchte? Sie konnte sich nicht dazu durchringen, die Nachbarn zu fragen, wie sie die Dinge handhabten, überzeugt davon, dass alle automatisch die Regeln verstanden. Ihre Verwirrung offenzulegen, hätte geheißen, alles offenzulegen, einschließlich ihrer Zweifel.

      Das war erst wenige Monate her, doch neuerdings, da immer mehr Teile des Systems verstopften oder ins Stocken gerieten, hatten die beiden angefangen, das genaue Gegenteil von dem zu praktizieren, was Anja ursprünglich getan hatte: Sie trugen ihren Müll den Berg hinunter und entsorgten ihn klammheimlich in den orangefarbenen Mülleimern am Straßenrand. Zunächst hatte Anja sich geschämt, den Hang mit einem Rucksack, vollgestopft mit einem vom Laptop plattgedrückten Bündel Müll, herunterzumarschieren, doch Louis versicherte ihr, dass sie nur taten, was von ihnen verlangt wurde: Sie verliehen der Nachhaltigkeit ein gutes, sauberes Gesicht. Irgendwann fühlte es sich genauso verantwortungsbewusst an, den Müll vom Berg hinunterzubringen, wie es sich zuvor angefühlt hatte, ihn hinaufzutragen.

       2

      Anja schlitterte den Hang hinab, der durch die Überbeanspruchung matschig geworden war. Er war bislang weder gepflastert oder auch nur mit Kies bestreut worden, weil Fin-Start nicht zugeben wollte, dass der Zustand des Pfades vernünftigerweise nicht länger als provisorisch bezeichnet werden konnte. Anstatt das Provisorium zu optimieren, um es während der nicht endenden Zwischenzeit funktionaler zu gestalten, wurde es ignoriert, wie zum Zeichen, dass etwas Besseres, etwas Großartiges – der bestmögliche Pfad – kommen würde.

      Louis verglich diese Situation mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem. Die Weigerung, eine Nichtlösung mit einer Behelfslösung zu verbessern, sagte er, sei die Geisteshaltung, die einen Großteil der Welt zu einem schlammigen Hang machte, der der Instandsetzung bedurfte. Genau diese Argumentation hatte ihn tatsächlich während seines ersten Jahres bei Basquiatt viel Zeit gekostet, der NGO, für die er arbeitete und die seiner Meinung nach einem ideologischen Glauben an große Lösungen aufsaß, die niemals erreicht werden konnten, und zwar zum Nachteil von kleinen, praktisch anwendbaren Kompromissen. »Lasst uns realistisch sein!«, parodierte er sich häufig selbst. »Was können wir heute tun, um die Lage zu verbessern?«

      »Was glaubst du, warum Flüchtlingslager nie mit einer anständigen Infrastruktur ausgestattet werden?«, hatte er Anja nur wenige Tage vor seiner überstürzten Abreise in die USA gefragt. Sie hatten im Regen ihre Einkauftaschen den Hang hochgeschleppt zu ihrer Wohnung, die Oberkörper stets gegen den Anstieg gestemmt, während ihre Turnschuhe im Matsch wegrutschten; es war jämmerlich.

      »Schlammige Szenen der Verwahrlosung«, rief er ihr den Berg hinunter zu, fest entschlossen, die Diskussion aus irgendeinem Grund genau in diesem Moment zu führen. Je schlimmer die Dinge in ihrer Wohnung wurden, desto stärker neigte er zu Tiraden. »Der Schlamm soll ein Zeichen sein, dass die schlimme Situation nicht ewig andauern wird, egal, wie lange sie schon andauert. Sie wollen dich glauben lassen, das Lager gäbe es nur vorübergehend, damit niemand die Verantwortung dafür übernehmen muss.« Seine Stimme wurde lauter, je weiter sie zurückfiel. »Die Lebensqualität im Hier und Jetzt«, brüllte er über die Schulter, »wird dem Ideal geopfert. Verstehst du, was ich meine?«

      Natürlich verstand sie, was er meinte. »Aber dir ist schon klar, dass du The Berg mit einem Flüchtlingslager vergleichst, oder?« Damit war die Diskussion beendet.

      Heute trug sie nur einige Avocadoschalen in den Taschen ihres Vinyl-Anoraks. Die ganze Wohnung glich einer einzigen heißen, geschwollenen Beule, sie traute sich nicht, irgendwas in den Abguss zu stopfen. Sie winkte einer Gruppe Elektriker in Blaumännern zu, die gelangweilt um einen Pfeiler standen, der eines der Kabel der Seilbahn tragen sollte. Sie hatten die Gondel auf einen Stapel Holzpaletten gehievt. Einer der Arbeiter warf einen Zigarettenstummel auf das bloßliegende Ende eines halb im Matsch vergrabenen Kabels, und es stieß einen kläglichen Funken aus.

      Als sie ihr Fahrrad von einem Pfahl am Fuß des Hangs losmachte, sah sie, dass Louis’ Rennrad noch immer an einen Baum angeschlossen dastand. Er musste die Bahn genommen haben. Sie steckte ihr Telefon in das Ladegerät auf der Lenkstange, und checkte ihre Nachrichten. Dam hatte

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