Die Frauen von Janowka. Helmut Exner

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Die Frauen von Janowka - Helmut Exner

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lebend. Meine Eltern hatten sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mutter hatte meinem Vater strikt verboten, in die Ostzone zu reisen, weil bekannt war, dass die Sowjets 1945/46 etliche Leute, die aus der Ukraine kamen, zurück in die Sowjetunion geholt hatten. Von vielen hatte man nie wieder etwas gehört. Und DDR-Bürger durften nicht in den Westen reisen. Für mich war Tante Natalie, der zu begegnen ich niemals gehofft hatte, eine Art Märchenfee, eine liebe Tante, die es mal gegeben hatte und heute in einer unerreichbaren Welt lebte. Nun durfte diese Tante in den Westen reisen, da sie aufgrund einer schweren Krankheit Rentnerin geworden war, obwohl sie die Altergrenze noch nicht erreicht hatte und nie erreichen würde. Tante Natalie, ein kleines, dünnes Persönchen, unscheinbar wirkend, aber mit einem riesengroßen Herzen. Sie war es, die die Geschichte ihrer Mutter Serafine erzählte:

      An einem heißen, wolkenlosen Sommertag in Wolhynien in der Ukraine erlebten ihre Eltern dieses Phänomen des Donners bei strahlendem Wetter und der Musik, die erklang, ohne dass eine Kapelle spielte. Serafine ging daraufhin zu ihrem Haus, packte ein paar Sachen, spannte das Pferd ein, holte ihre Mutter ab und machte sich auf den Weg zu ihrer Schwester, die ihr Bescheid gegeben hatte. Nach einer Zwischenübernachtung bei Verwandten – es gab überall in der Gegend Verwandte und Leute, mit denen man verschwägert und befreundet war, erreichten sie schließlich das Haus des Schwagers und Schwiegersohns. Es war keine Überraschung, als man ihnen mit traurigen Gesichtern erzählte, dass Justina zur Zeit des Donners und der Musik heimgegangen war. Denn in unserer Familie starb man nicht, man ging heim.

      - Kapitel 9 -

      Serafine und Friedrich bekamen ihre erste Tochter, Auguste, im Februar 1911. Im Oktober 1912 wurde Natalie, die zweite Tochter, geboren. Ein paar Tage später hatte der Küster die Taufe vorgenommen. Die achtzehnjährige Katlika hatte Serafine in den letzten Wochen im Haushalt geholfen. Sie hatte etwas Zeit gebraucht, um sich von der Geburt zu erholen. Mit zwei kleinen Kindern zurecht zu kommen, war zunächst einmal ungewohnt. Und die Arbeit in Haus und Hof machte sich auch nicht von alleine. Katlika war gern bei Serafine und den kleinen Mädchen. Außerdem kam sie dadurch auf andere Gedanken. Denn sie war verliebt.

      Was zwei Jahre zuvor als normale kleine Schwärmerei zu Eduard Ehmke begonnen hatte, war inzwischen zu einer großen Liebe geworden. Am liebsten hätte sie Eduard sofort geheiratet. Ihr Vater Karl war anderer Meinung. Sie sah immer noch aus wie ein dreizehnjähriges Mädchen, war klein und dünn, so dass ihr Vater nicht recht wahrhaben wollte, dass sie inzwischen erwachsen und heiratsfähig war. Er hatte sich Eduard vor einiger Zeit vorgenommen und ihm gesagt:

      »Pass mal auf, mein Junge. Solange du nicht verheiratet bist, behalte deine Hände mal schön bei dir, und auch deine anderen Körperteile. Wenn Katlika alt genug ist und ihr euch immer noch mögt, kannst du zu mir kommen und offen mit mir reden.«

      Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wann Katlika in Karls Augen alt genug war. Andere Mädchen heirateten schon mit siebzehn, oder wenn sich Nachwuchs

      einstellte, sogar schon früher. Katlika bedrängte ihren Vater bei jeder Gelegenheit. Die letzte Entscheidung traf ohnehin ihre Mutter Christine. Wenn sie dem Vater sagen würde, dass sie jetzt alt genug zum Heiraten wäre, dann würde er schon zustimmen.

      Katlika saß in Serafines Küche und bearbeitete das Butterfaß. In Gedanken führte sie einen Monolog aus einer Mischung von Wut und Enttäuschung. Was denkt Vater sich eigentlich! Ich bin doch nicht mehr sein kleines Mädchen. Ich bin eine erwachsene Frau. Nur weil ich keine große, dicke Matrone bin, kann er mich doch nicht wie ein Kind behandeln. Ich will verdammt noch mal tun, was alle tun. Mit einem Mann im selben Bett liegen, mich überall berühren lassen, ihn nie wieder wegschieben und vertrösten. Ich will mit ihm allein sein. Ich will meinen Spaß! Und Mutter ist genau so. Ich kann es nicht mehr hören: Warte noch ein bisschen. Du bist doch noch so jung, und Eduard ist auch noch so jung. Diese ganze Leier geht mir auf die Nerven!

      »Na Katlika, die Butter müsste eigentlich schon fertig sein, so energisch, wie du stampftst.« sagte Serafine.

      »Huch, hast du mich jetzt erschrocken! Ich war so in Gedanken. Und ich bin wütend.«

      »Das ist nicht zu übersehen. Offenbar hast du Liebeskummer.«

      »Ganz im Gegenteil. Ich möchte endlich heiraten.«

      »Ich denke, ich sollte mal mit deiner Mutter reden. Warum sollst du nicht mit achtzehn heiraten? Außerdem ist der Eduard ein netter Kerl. Und wenn du ihn heiratest, sind wir beide nicht nur verschwägert, sondern auch verwandt. Eduard ist ja ein Cousin von mir.«

      »Mit wem in der Gegend sind wir eigentlich nicht verwandt?«, fragte Katlika.

      »Na, da gibt es nicht sehr viele«, entgegnete Serafine schmunzelnd.

      »Dann rede doch mal mit meiner Mutter. Ich halte es nicht mehr lange aus, Eduard immer wegschieben zu müssen, aus Angst, dass etwas passieren könnte. Und wenn´s dann doch passiert, dann ist die Katastrophe da.«

      »Na, soweit wollen wir es nicht kommen lassen. Ich rede mit deiner Mutter an Weihnachten. Da sind alle in guter Stimmung. Und wenn deine Mutter ja sagt, kann dein Vater nur noch nicken.«

      Beide Frauen fngen an zu schmunzeln, was dann in einem ausgelassenen Kichern endete.

      An Heiligabend fing es an zu schneien. Gegen sechs Uhr abends strömte das gesamte Dorf ins Bethaus. Eigentlich fanden hier nur Wortgottesdienste statt. Aber an Heiligabend wurde gesungen. Der Chor, der sonst meist anlässlich von Beerdigungen sang, hatte einige Lieder einstudiert. Die meisten Gottesdienstbesucher mussten stehen. Stühle gab es nur für die Alten und Gebrechlichen. Der Küster sagte mit großer Inbrunst ein Gebet, an dessen Ehrlichkeit niemand zweifelte:

      »Herr, lass uns auch weiterhin in Frieden mit unseren Brüdern und Schwestern zusammenleben, ob sie nun Deutsche sind, Russen, Polen, Ukrainer oder Juden. Bewahre uns alle vor Not, Hunger und Krieg. Beschütze auch die Polen und Ukrainer, die jetzt in unserem Dorf wohnen und heute nicht hier sind, weil sie eine andere Religion haben.«

      Der Küster sprach den Menschen aus den Herzen, weil es in den letzten Jahren zunehmend zu Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen gekommen war. Die Polen waren der russischen Obrigkeit suspekt, weil sie dieses Land als das ihre ansahen. So war es ja auch jahrhundertelang gewesen, bis die Russen Wolhynien im Rahmen der dritten polnischen Teilung schlichtweg ihrem Imperium einverleibten. Dass so viele Deutsche in dieser Region lebten, war dem Zaren erst recht ein Dorn im Auge. Die Deutschen konnten weiter im Osten leben, der wesentlich dünner besiedelt war. Aber Wolhynien war nicht allzu weit von Deutschland entfernt. Und sollte es einmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, dann hätte man den Feind im eigenen Land. Um diesem Ansinnen des Zaren Nachdruck zu verleihen, wurde die russische Verwaltung angewiesen, auslaufende Pachtverträge mit Deutschen nicht mehr zu verlängern, und Banken durften keine Kredite mehr an Deutsche vergeben, um eigenes Land zu kaufen. Immer mehr Familien verließen daher die Gegend. Einige zogen gen Osten, viele gingen nach Ostpreußen, einige wanderten nach Südamerika aus, aber die meisten versuchten einen Neuanfang in Nordamerika.

      Auch den Ukrainern ging es nicht gut. Viele waren unter polnischer Herrschaft, und dann unter russischer, bis 1861 Leibeigene gewesen. Das hatte zur Folge, dass die meisten bis heute kein eigenes Land im eigenen Land besaßen. Die Auswanderung von Ukrainern, insbesondere nach Kanada, war enorm. Als die polnischen Gutsherren dann 1861 ohne Leibeigene dastanden, konnten sie ihre großen Felder nicht mehr bestellen. Also verkaufte oder verpachtete man. Da die Ukrainer dafür zu arm waren, strömten Deutsche, vor allem aus Polen kommend, ins Land. Bis zur Jahrhundertwende

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