Der letzte Prozess. Thomas Breuer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der letzte Prozess - Thomas Breuer страница 9

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Der letzte Prozess - Thomas Breuer

Скачать книгу

er also zum Stillstand verurteilt war, während in der Gegenrichtung jenseits der Mittelleitplanke der Verkehr reibungslos floss, nutzte er die Zeit, um den Prozessverlauf noch einmal zu rekapitulieren. Das würde ihm nachher beim Schreiben des Berichtes Zeit sparen.

      Dieser Reinhold Hanning war also – mutmaßlich – an 170.000 Morden beteiligt gewesen. Er hatte gewusst, was passierte, und das Verbrechen aus eigener Entscheidung unterstützt. Zum ersten Mal hatte Heller jemanden live erlebt, der zu den Rädchen im Getriebe des Holocausts zählte. Und dann wirkte ausgerechnet dieser Mann so harmlos und überhaupt nicht wie eine Bestie. Offenbar war das Bild, das Heller aus dem Geschichtsunterricht und all den Hollywood-Filmen von den Naziverbrechern hatte, nicht so realitätsnah, wie es ihm bislang erschienen war. Vielleicht waren diese Massenmörder ja im Wesentlichen gar keine teuflischen Monster, sondern tatsächlich Menschen wie du und ich – genauso simpel, genauso armselig, genauso feige und hinterhältig, überhaupt nichts Besonderes.

      Hanning war Jahrgang 1921. In den Anfangsjahren des Dritten Reichs war er im HJ-Alter gewesen und mit der braunen Milch gesäugt worden. Aber war das Erklärung genug? Andere junge Leute waren unter demselben Einfluss aufgewachsen und nicht zu Massenmördern geworden, auch nicht zu Hilfswillis der Henker. Hellers Eltern zum Beispiel. Was war bei denen anders gelaufen als bei Hanning?

      Auf diese Frage konnten seine Eltern ihm nicht mehr antworten. Sein Vater war seit Langem tot und seine Mutter vor sechs Wochen gestorben. Er hatte die Chance verstreichen lassen, sie über ihre Kindheit auszufragen. Das war das Schicksal heute: Die Zeitzeugen starben langsam aus. Nach ihnen würde es keine Möglichkeit mehr geben, Fragen zu stellen und Antworten aus erster Hand zu bekommen. Genau deshalb waren Prozesse wie der gegen Reinhold Hanning ja so wichtig, weil sie eine letzte Chance darstellten und quasi in letzter Sekunde stattfanden.

      Bei Heller zu Hause hatten sie früher nur sehr selten über die Kindheit der Eltern gesprochen, allenfalls wenn die Großmutter zu Besuch gekommen war. Die hatte oft von den Bombennächten erzählt, von der Flucht in den Hochbunker mit dem kleinsten Kind, Fabians Mutter, an der einen und dem Koffer mit den wichtigsten Papieren in der anderen Hand, während die größeren Kinder schon vorwegliefen und einen Platz im dicht besetzten Bunker sicherten. Und von den Verwandten in Medebach im Sauerland hatte die Großmutter geschwärmt, weil da keine Bomben gefallen und die Kinder dort im letzten Kriegsjahr sicherer gewesen waren.

      Heller erinnerte sich an Fotos aus den Kindertagen seiner Mutter. Sie hatte wie ein unbeschwertes, glückliches Mädchen darauf ausgesehen. Während um sie herum die Nazis ihr mörderisches System errichtet und einen Vernichtungskrieg geführt hatten, hatte sie mit ihren Freundinnen genauso unschuldig gespielt, wie Kinder es heute taten. Das Bild eines kleinen Mädchens mit langen blonden Zöpfen tauchte vor Heller auf – in Schwarz-Weiß. Die Fotos gab es noch. Sie mussten sich in Alben irgendwo in den Schränken seiner Mutter befinden. Im Stau vor dem Kreuz Werl beschloss Fabian Heller, nicht in seine Wohnung, sondern zum Haus seiner Mutter zu fahren, um das er seit sechs Wochen einen großen Bogen gemacht hatte, und danach zu suchen.

      6

      Für den Landgerichtsbezirk Paderborn war das Institut für Rechtsmedizin in Münster zuständig. Allerdings musste der Leichnam nicht dorthin transportiert werden, sondern die Obduktion wurde, wie in solchen Fällen üblich, im Sektions­saal des Johannisstifts in Paderborn durchgeführt. Die Gerichtsmediziner aus Münster reisten normalerweise extra zu diesem Zweck an. Da Hermann-Josef Stukenberg aber bereits zum Tatort gerufen worden war, war er gleich vor Ort geblieben und hatte umgehend mit der Obduktion begonnen, wie Gina Gladow telefonisch erfahren hatte.

      Als Lenz und seine junge Kollegin den Sektionssaal des Johannisstifts betraten, hatten Stukenberg und sein Gehilfe den Leichnam bereits der Länge nach aufgeschnitten und beugten sich gerade über das Innenleben des menschlichen Körpers. Der Gerichtsmediziner blickte nur kurz auf und nickte dem Kriminalbeamten zu.

      Lenz stellte sich als neuer Leiter des Kommissariats vor, worauf Stukenberg schmunzelte und, ohne den Blick von ihm zu nehmen, sagte: »Sieh an, das Wunder ist tatsächlich geschehen?«

      Was meint er?, bedeutete Lenz’ Blick an seine Kollegin, die aber nur mit den Schultern zuckte und die Lippen zusammenkniff. Mit dem Gefühl, dass hier etwas hinter seinem Rücken stattfand, das nicht unbedingt freundlich sein musste, erkundigte sich Lenz kurz angebunden nach ersten Untersuchungsergebnissen. »Oder seid ihr noch nicht so weit?«, schob er angriffslustig nach.

      »Oh doch«, entgegnete Stukenberg, in dessen Gesicht dieses süffisante Schmunzeln eingemeißelt zu sein schien. »Wir haben sogar schon eine ganze Menge, sofern Sie mit äußeren Tatmerkmalen zufrieden sind. Die Sektion der Organe dauert noch etwas. Ich schicke euch dann den Bericht. Allerdings glaube ich nicht, dass wir da eine Überraschung erleben werden. – Kommen Sie mal einen Schritt näher, dann wird das alles für Sie deutlich plastischer.«

      Stukenberg schob seinen Mitarbeiter sanft zur Seite. Nun wurde für Lenz das ganze eklige Ausmaß der Arbeit eines Rechtsmediziners sichtbar. Nicht nur, dass der Leichnam keinen Kopf mehr hatte – der bunte Mischmasch in einer schmalen Stahlwanne an dessen Stelle musste das sein, was Stukenbergs Männer vom Kopfsteinpflaster gekratzt hatten –, auch der Rest des Körpers sah einfach nur blutig, rissig und teilweise blau-schwarz verfärbt aus. Zudem hatten die Rechtsmediziner dem Körper bereits einige Organe entnommen, so dass der Brustraum einer blutigen Schüssel aus organischem Material glich.

      »Lecker«, murmelte der Hauptkommissar.

      »Nicht wahr?«, freute sich Stukenberg. »Wäre das hier ein Fernsehkrimi, hätte ich auch noch eine deftige Leberwurststulle in der Hand, aber das bleibt euch in der Realität zum Glück erspart. Also: Die Todesursache ist eindeutig, nämlich grobe Gewalteinwirkung mittels eines Felsbrockens auf den Schädel des Opfers, das zweifellos sofort tot war. Vorher wurden ihm aber noch beide Hände mit schweren Stiefeln zerquetscht und zwar, indem die Sohlen mehrfach auf dem Handrücken und den Fingern hin und her gedreht wurden. Spätestens der damit verbundene Schmerz dürfte dem Opfer gnädig die Sinne geraubt haben.«

      Lenz hatte den Eindruck, dass der Rechtsmediziner einen ganz eigenen Spaß an seinem Beruf hatte.

      »Anschließend ist der Täter auf den Rücken des Opfers gesprungen. Wirbelsäule mehrfach gebrochen, sämtliche Rippen zerborsten und in die inneren Organe gebohrt.« Er deutete auf unzählige weiß-gelbe Splitter, die in der blutigen Brühe schwammen. »Da hat sich einer so richtig ausgetobt. – Wie Sie unschwer erkennen können, handelt es sich übrigens um eine männliche Leiche.« Stukenbergs behandschuhter Zeigefinger wies auf die schrumpeligen Genitalien. »Der Mann dürfte etwa neunzig Jahre alt gewesen sein, eher noch etwas älter. Wir haben uns die äußerlichen Verletzungen genauer angesehen. Es gibt mehrere Altersstufen. Die jüngsten sind diese Risse hier, die vermutlich von einer mehrsträngigen Lederpeitsche herrühren.« Stukenberg drehte den Oberkörper etwas auf die Seite, ohne auf die Sauerei zu achten, die er damit auf dem Stahltisch anrichtete, und deutete auf Striemen, die aussahen, als wäre die Haut regelrecht aufgeplatzt. »Stofffetzen in den Wunden belegen, dass das Opfer sein Oberhemd trug, als es ausgepeitscht wurde. Dann haben wir aufgeplatzte Hautstellen, die von Stockschlägen herrühren, wobei das Opfer dabei offensichtlich nackt war. Unterschiedlich verkrustete Wunden dieser Art befinden sich auf dem Gesäß des Toten und im Bereich des unteren Rückens. Der Mann dürfte über einen Zeitraum von etwa drei Tagen immer wieder diesen Schlägen ausgesetzt gewesen sein, wobei die Haut auf unnatürliche Weise gespannt gewesen sein muss, denn sie ist über eine größere Länge regelrecht aufgeplatzt.«

      »Das heißt, das Opfer wurde etwa drei Tage lang mit Stock- und Peitschenschlägen gefoltert«, fasste Lenz zusammen, »bevor es schließlich mit dem Stein erschlagen wurde.«

      »Richtig. Und in dem Zusammenhang sind Fesselspuren an den Hand- und Fußgelenken von Bedeutung. Dabei handelt

Скачать книгу