Night Team. Michael Connelly
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»Ich muss los.« Dvorek knüllte die Folie zusammen, in die seine Tacos eingepackt gewesen waren. »Oder willst du mitkommen und mir Rückendeckung geben?«
Das war natürlich nicht ernst gemeint. Relic brauchte keine Unterstützung von einem Late-Show-Detective.
»Wir sehen uns in der Station«, sagte sie. »Außer die Sache läuft aus dem Ruder, und du brauchst tatsächlich einen Detective.«
Sie hoffte nicht. Häusliche Auseinandersetzungen endeten meistens in Er-hat-gesagt-sie-hat-gesagt-Vergleichen, bei denen sie eher die Funktion eines Schiedsrichters hatte als die eines Ermittlers. Selbst unübersehbare Verletzungen erzählten nicht immer die ganze Geschichte.
»Bis dann«, sagte Dvorek.
3
Der Tagesablauf der Detectives von der Tagschicht wurde in erster Linie vom Verkehrsaufkommen bestimmt. Damit sie am Nachmittag früh genug Schluss machen konnten, um nicht in den Feierabendverkehr zu geraten, erschienen die meisten von ihnen normalerweise schon vor sechs Uhr morgens zum Dienst. Darauf zählte Ballard, als sie beschloss, Cesar Rivera nach dem Fall Daisy Clayton zu fragen. Während sie auf sein Eintreffen wartete, sah sie die digitalen Daten durch, die es über den neun Jahre zurückliegenden Mord gab.
Das Mordbuch, ein blauer Ordner mit ausgedruckten Berichten und Fotos, galt beim Los Angeles Police Department bei Mordermittlungen nach wie vor als die Quelle schlechthin, aber wie vor der Welt als Ganzem hatte der digitale Wandel auch vor der Polizei nicht Halt gemacht. Mithilfe ihres LAPD-Passworts konnte sich Ballard zu den meisten in die Datenbanken eingescannten Berichten und Fotos zu dem Fall Zugang verschaffen. Das Einzige, was bei der Digitalisierung der Daten verloren ging, waren die handschriftlichen Notizen, die sich Ermittler meistens auf dem hinteren Einbanddeckel des Mordbuchs machten.
Am wichtigsten war jedoch die sogenannte Chronologie, die ausnahmslos das Rückgrat eines Falls war, eine Aufzählung sämtlicher Maßnahmen, die von den zuständigen Ermittlern ergriffen worden waren.
Ballard stellte sofort fest, dass der Mord offiziell als Cold Case, als ungelöster Fall, eingestuft und an die Einheit Offen-Ungelöst weitergeleitet worden war, die als Teil der Robbery-Homicide Division, der Elitetruppe des LAPD, Downtown im Präsidium stationiert war. Ballard hatte selbst einmal der RHD angehört und kannte viele der Detectives und sonstigen Akteure dort. Zu ihnen gehörte auch ihr ehemaliger Lieutenant, der sie vor drei Jahren bei der Weihnachtsfeier der Einheit in einem Badezimmer an die Wand gedrückt und sich ihr aufzudrängen versucht hatte. Der Umstand, dass sie ihn zurückgewiesen, Beschwerde gegen ihn eingereicht und ein internes Ermittlungsverfahren angestrengt hatte, hatte zur Folge gehabt, dass sie in der Nachtschicht der Hollywood Division gelandet war. Ihre Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen, weil ihr damaliger Partner sie nicht bestätigt hatte, obwohl er Zeuge des Vorfalls geworden war. In der Verwaltung des LAPD hielt man es für das Beste für alle Beteiligten, Ballard und Lieutenant Robert Olivas zu trennen. Er blieb bei der RHD, Ballard wurde versetzt, und die dahinter stehende Botschaft war unmissverständlich. Olivas kam ungeschoren davon, während sie von einer Eliteeinheit auf eine Stelle versetzt wurde, für die sich nie jemand bewarb oder freiwillig meldete, ein Posten, der normalerweise den Spinnern und Losern vorbehalten war.
Noch augenfälliger war die fatale Ironie dieser Maßnahme für Ballard gerade in den letzten Monaten geworden, als das Land und insbesondere die Unterhaltungsindustrie in Hollywood von einer Flut von Skandalen überschwemmt wurden, in denen es um sexuelle Belästigung und Schlimmeres ging. Der Polizeichef rief sogar eine Sondereinheit ins Leben, um die zahllosen, zum Teil schon Jahrzehnte zurückliegenden Anzeigen bearbeiten zu können, die plötzlich aus der Filmindustrie eingingen. Natürlich setzte sich die Sondereinheit des Polizeichefs aus RHD-Detectives zusammen, und einer ihrer Leiter war Olivas.
Die alte Geschichte mit Olivas war Ballard nur zu gegenwärtig, als sie die digitalen Archive des LAPD nach Boschs altem Fall zu durchforsten begann. Grundsätzlich verstieß sie nicht gegen irgendwelche Vorschriften, wenn sie in alte Akten Einsicht nahm. Allerdings war der Fall, nachdem die Mordkommission der Hollywood Division aufgelöst worden war, der Einheit Offen-Ungelöst zugeteilt worden, die zur Robbery-Homicide Division gehörte und somit in Olivas’ Einflussbereich lag. Ballard wusste, dass sie bei ihrer Suche in der LAPD-Datenbank eine digitale Spur hinterließe, auf die Olivas möglicherweise aufmerksam wurde. Und das böte ihm eine Gelegenheit, ihr das Leben schwer zu machen und ein internes Ermittlungsverfahren gegen sie einzuleiten, weil sie sich für einen RHD-Fall interessierte.
Aber dieses Risiko einzugehen, war sie bereit. Sie hatte keine Angst vor Olivas gehabt, als er ihr auf der Weihnachtsfeier vor drei Jahren ins Bad gefolgt war; sie hatte ihn von sich gestoßen, und er war in eine Badewanne gefallen. Und auch jetzt hatte sie keine Angst vor ihm.
Obwohl die Chronologie das wichtigste Dokument war, um sich Überblick über einen Fall zu verschaffen, nahm sich Ballard als Erstes die Fotos vor. Sie wollte wissen, wie Daisy Clayton ausgesehen hatte, lebendig und tot.
Unter den zahlreichen Tatort- und Obduktionsfotos war auch ein Studioporträt des Mädchens. Sie trug darauf eine weiße Bluse mit dem Monogramm SSA über der linken Brust, die für Ballard nach einer Privatschuluniform aussah. Ihr blondes Haar war halblang, die Akne auf ihren Wangen mit Make-up kaschiert, und obwohl sie in die Kamera lächelte, lag bereits dieser abwesende Pubertätsblick in ihren Augen. Auch die Rückseite des Fotos war gescannt worden. Dort stand: 7. Klasse, St. Stanislaus Academy, Modesto.
Ballard beschloss, die Tatortfotos später anzusehen und sich zunächst mit der Chrono zu befassen. Zuerst scrollte sie zu den letzten Ermittlungsschritten und erfuhr so, dass die Ermittlungen, abgesehen von jährlichen Routinechecks, acht Jahre lang geruht hatten, bis sie vor sechs Monaten einer Cold-Case-Ermittlerin namens Lucia Soto zugeteilt worden waren. Ballard kannte Soto nicht, hatte aber von ihr gehört. Sie war die jüngste Ermittlerin, die je zur RHD versetzt worden war, und hatte Ballards Rekord gebrochen, die bei ihrer Beförderung acht Monate älter gewesen war als Soto.
»Lucky Lucy«, sagte Ballard laut.
Ballard wusste auch, dass Soto zurzeit der Hollywood Sexual Harassment Task Force zugeteilt war, weil die zuständigen Stellen beim LAPD – hauptsächlich weiße Männer – gemerkt hatten, dass es nicht schaden konnte, diese Sondereinheit mit möglichst vielen Frauen zu besetzen. Soto, die wegen eines furchtlosen Einsatzes, der ihr neben ihrem Spitznamen die Beförderung zur RHD eingetragen hatte, in den Medien keine Unbekannte war, musste bei Pressekonferenzen und sonstigen Medienterminen oft als Aushängeschild der Sondereinheit herhalten.
Das gab Ballard zu denken. Sie rechnete rasch zurück. Vor sechs Monaten hatte Soto den ungelösten Fall Daisy Clayton entweder zugeteilt bekommen, oder sie hatte selbst einen Antrag gestellt, ihn bearbeiten zu dürfen. Kurz darauf war sie von der Einheit Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden. Dann taucht Bosch in der Hollywood Station auf, um sich über den Fall zu erkundigen und sich Einblick in die Akten eines für Sexualdelikte zuständigen Detective zu verschaffen.
Hier bestand eindeutig ein Zusammenhang. Aber wo genau war er zu suchen? Was diese Frage anging, sah Ballard rasch klarer, als sie in der LAPD-Datenbank eine neue Suche startete und alle Fälle aufrief, in denen Bosch als leitender Ermittler aufgeführt war. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf den letzten Fall, den er vor seinem Ausscheiden beim LAPD bearbeitet hatte: eine Brandstiftung in einem Wohnblock, bei der mehrere Kinder infolge einer Rauchvergiftung ums Leben gekommen waren. In mehreren Berichten über diesen Fall wurde