Night Team. Michael Connelly
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Da diese Frage im Moment nicht zu beantworten war, machte sich Ballard wieder ans Studium der Akte, wobei sie diesmal ganz von vorne begann. Daisy Clayton wurde darin als chronische Ausreißerin dargestellt, die es sowohl zu Hause als auch in den betreuten WGs und Heimen, in denen sie vom Department of Children and Family Services untergebracht worden war, nie lange ausgehalten hatte. Jedes Mal wenn sie ausriss, landete sie auf den Straßen Hollywoods, wo sie sich in Obdachlosenlagern und besetzten leerstehenden Gebäuden anderen Ausreißern anschloss. Sie trank, nahm Drogen und ging auf den Strich.
Mit dem Gesetz war Daisy zum ersten Mal sechzehn Monate vor ihrem Tod in Konflikt gekommen. Dem folgten mehrere weitere Festnahmen wegen Drogendelikten und Prostitution. Aufgrund ihrer Minderjährigkeit wurde sie nach den ersten Festnahmen lediglich zu ihrer alleinerziehenden Mutter Elizabeth oder in entsprechende Einrichtungen für Jugendliche gebracht. Aber das konnte sie nicht davon abhalten, auf die Straße und in die Obhut Adam Sands‘, eines neunzehnjährigen ehemaligen Ausreißers mit einer ähnlichen kriminellen Vorgeschichte, zurückzukehren.
Sands war von den ursprünglichen Ermittlern zwar vernommen, aber von der Liste potentieller Verdächtiger gestrichen worden, als sich sein Alibi bestätigte: Er war zum Zeitpunkt von Daisy Claytons Ermordung in einer Arrestzelle der Hollywood Division festgehalten worden.
Nachdem der Tatverdacht ausgeräumt war, wurde Sands ausführlich zu den Gewohnheiten und Beziehungen des Opfers befragt. Er behauptete zwar, nicht zu wissen, mit wem sie sich in der Mordnacht getroffen hatte, rückte aber zumindest heraus, dass sie sich normalerweise in der Nähe eines Einkaufszentrums am Hollywood Boulevard auf Höhe der Western Avenue herumtrieb, in dem es einen kleinen Supermarkt und einen Liquor Store gab. Dort sprach sie aus diesen Geschäften kommende Männer an, fuhr mit ihnen in eine der Seitenstraßen des Viertels und hatte im Auto Sex mit ihnen. Dabei behielt Sands sie normalerweise im Auge, aber in der fraglichen Nacht hatte er sich in Polizeigewahrsam befunden, weil er zu einer Gerichtsverhandlung wegen eines Drogendelikts nicht erschienen war.
Daisy war sich also selbst überlassen gewesen, und in der darauffolgenden Nacht wurde ihre Leiche in einer der Seitenstraßen entdeckt, in denen sie ihre Freier abfertigte. Sie war nackt, und ihr Körper wies Spuren von sexueller Gewalt und Folter auf und war nach ihrer Ermordung mit Bleichmittel gesäubert worden. Ihre Kleidungsstücke wurden nie gefunden. Den Ermittlungen zufolge lagen zwanzig Stunden zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sie auf dem Strich im Einkaufszentrum das letzte Mal gesehen worden war, und dem Moment, als bei der Polizei ein anonymer Anruf einging, dass in einem Müllcontainer in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard eine Leiche lag, und Officer Dvorek losgeschickt wurde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Was in den zwanzig Stunden dazwischen passiert war, konnte nicht rekonstruiert werden, aber der Umstand, dass die Leiche mit Bleichmittel gewaschen worden war, legte den Schluss nahe, dass Daisy an einen unbekannten Ort gebracht, dort missbraucht und ermordet und anschließend gründlich gesäubert worden war, um alle Spuren, die zu ihrem Mörder hätten führen können, zu vernichten.
Der einzige Anhaltspunkt, aus dem die Ermittler jedoch nie schlau geworden waren, war ein Bluterguss an der rechten oberen Hüfte, der dem Opfer nach Ansicht der Detectives vom Mörder beigebracht worden war. Er hatte die Form eines Kreises von etwa fünf Zentimetern Durchmesser mit den kreuzförmig angeordneten Buchstaben A-S-P in der Mitte.
Der Umstand, dass die Buchstaben auf dem Körper der Toten spiegelverkehrt waren, bedeutete, dass sie auf dem Gegenstand, der den Abdruck hinterlassen hatte, richtig herum standen. Der Kreis um die kreuzförmig angeordneten Buchstaben sah wie eine sich selbst in den Schwanz beißende Schlange aus. Die Ränder des Blutergusses waren jedoch so stark verschwommen, dass sich das nicht mit Sicherheit feststellen ließ.
Obwohl viel Zeit und Mühe darauf verwendet wurde, die Bedeutung der Buchstaben zu entschlüsseln, kamen die Ermittler zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zunächst waren für den Fall zwei Mordermittler der Hollywood Division zuständig gewesen, doch als Hollywoods berühmte Mordkommission im Zuge der Zusammenlegung in Regionalzentren aufgelöst wurde, bekam die Olympic Division den Fall zugeteilt. Die Hollywood-Detectives waren King und Carswell gewesen, die Ballard beide nicht kannte.
Die Obduktion ergab, dass der Tod des Opfers zehn Stunden nach dem Zeitpunkt eingetreten war, zu dem es das letzte Mal lebend gesehen worden war, und zehn Stunden bevor die Leiche entdeckt worden war.
Die Todesursache war dem Obduktionsbefund zufolge manuelle Strangulation. Diese Feststellung wurde dahingehend spezifiziert, dass die Würgespuren, die die Hände des Täters am Hals des Opfers zurückgelassen hatten, darauf hindeuteten, dass es von hinten gewürgt worden war – möglicherweise, während es sexuell missbraucht wurde. Zu den Gewebeschädigungen in Vagina und Anus war es dem Befund zufolge sowohl ante als auch post mortem gekommen. Die Fingernägel des Opfers waren post mortem entfernt worden, was als ein Versuch des Täters gedeutet wurde, jegliche biologische Spuren zu beseitigen.
Außerdem wies die Leiche Abschürfungen und Kratzwunden auf, die dem Opfer nach Ansicht der Ermittler beigebracht worden waren, als es post mortem mit einer harten Bürste und Bleichmittel gesäubert worden war. Letzteres wurde in allen Körperöffnungen gefunden, darunter auch in Mund, Rachen und Gehörgängen. Der die Obduktion vornehmende Rechtsmediziner gelangte zu dem Schluss, dass die Leiche während des Säuberungsvorgangs in einem Behälter mit Bleichmittel gelegen hatte.
Aus diesem Umstand und aus dem Todeszeitpunkt schlossen die Ermittler, dass der Mörder Daisy in ein Hotelzimmer oder an einen sonstigen Ort gebracht hatte, wo die Möglichkeit bestand, die Leiche in einer Wanne mit Bleichmittel zu säubern.
»Da hat jemand nichts dem Zufall überlassen«, sagte Ballard laut.
Wegen ihrer Rückschlüsse bezüglich des Bleichmittels verwendeten die Detectives zu Beginn ihrer Ermittlungen viel Zeit auf eine gründliche Überprüfung sämtlicher Motels und Hotels in Hollywood, von deren Zimmern man direkten Zugang zum Parkplatz hatte. Allen Angestellten wurde Daisys Schulfoto gezeigt, Zimmermädchen wurden befragt, ob es in einem Zimmer stark nach Bleichmittel gerochen hatte, Mülltonnen wurden nach Bleichmittelbehältern durchsucht, alles ohne Erfolg. Der Umstand, dass der Ort von Daisy Claytons Ermordung nicht bestimmt werden konnte, stellte von Anfang an ein gravierendes Handicap dar. Nach sechs Monaten wurden die Ermittlungen in Ermangelung von Anhaltspunkten und Verdächtigen eingestellt und der Fall als Cold Case zu den Akten gelegt.
Schließlich wandte sich Ballard wieder den Tatortfotos zu, die sie diesmal trotz ihrer Entsetzlichkeit eingehend studierte. Die Jugend des Opfers, die von der enormen Kraft des Mörders zeugenden Verletzungen, die totale Verlassenheit, in der es in einem Müllcontainer nackt auf einem Haufen Abfälle lag … das alles weckte in Ballard tiefe Bestürzung und Betroffenheit über das schreckliche Schicksal des Mädchens. Ballard hatte nie zu den Ermittlern gehört, die bei Schichtende die Arbeit in einer Schublade zurücklassen konnten. Sie trug sie immer mit sich herum, und es war ihre Empathie, die sie motivierte.
Bevor sie zur Nachtschicht versetzt worden war, hatte sich Ballard bei der RHD auf Sexualmorde spezialisiert und gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Ken Chastain, der auf diesem Gebiet einer der renommiertesten Ermittler des LAPD gewesen war, mehrere Fortbildungsveranstaltungen zu dem Thema besucht. David Lambkin, der diese Seminare geleitet und sie sogar persönlich unter seine Fittiche genommen hatte, war lange die Koryphäe schlechthin auf seinem Gebiet gewesen, bis er den Job an den Nagel hängte und sich im Pazifischen Nordwesten zur Ruhe setzte.
Ballards