Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse. Sabine Zinkernagel

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel страница 5

Автор:
Серия:
Издательство:
Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel

Скачать книгу

kurz nach unserem Gebet eine Schwester mit der Frage, ob ich mein Kind jetzt gleich von der normalen Säuglingsstation abholen wolle.

      Von der Säuglingsstation? Abholen? Hieß das, dass Cornelius vom angeblichen Intensiv-Pflegefall zum ganz normalen Rooming-in-Kind aufgestiegen war? Ja, das hieß es tatsächlich.

      Es war gerade ein Kind zur Welt gekommen, das dringend ein Intensivbettchen benötigte. Die waren aber alle belegt. Die Ärzte waren sich einig: Cornelius konnte am ehesten von der Intensivstation verlegt werden. Das hieß: einen Säuglingstransport zur Kinderklinik anfordern.

      Aber genau in diesem Moment muss mein Engel auf den Plan getreten sein. Ich werde nie erfahren, wer es war. Ich weiß nur, dass er wie so mancher biblische Engel in weiß gekleidet gewesen sein muss. Er erinnerte die anderen Ärzte an meinen Wunsch, Cornelius zu stillen. Und daran, dass ich mit einer frischen Kaiserschnittnarbe unmöglich den ganzen Tag auf einem Stuhl in der Kinderklinik verbringen konnte. Cornelius war ja organisch gesund, nur der Hydrozephalus musste regelmäßig kontrolliert werden. Ob man es nicht wagen könne, das Baby hier zu behalten, eben auf der normalen Kinderstation?

      Man konnte. Und ich konnte mein Baby den ganzen Tag lang neben meinem Bett stehen haben, es wickeln, umziehen und ihm das Fläschchen mit der abgepumpten Mamamilch geben. Was für ein Unterschied zum vorigen Zustand! Was für ein Geschenk!

      Erste Versuche, Cornelius anzulegen, zeigten allerdings keinen Erfolg. Dafür musste Gott noch einen weiteren Engel auftreten lassen. Diesmal in Form der Stillschwester. Sie zeigte mir, wie ich mit dem kleinen Finger Cornelius zu Saugbewegungen animieren konnte, bevor ich ihm das Fläschchen gab.

      Ausgerechnet sonntags, als außer ihr nur noch eine Lehrschwester für alle Mütter und Babys der Station zuständig war, nahm sie mich mitsamt meinem Sohn ins Schwesternzimmer. »Heute muss das Kind an die Brust, sonst lernt er es womöglich nie«, erklärte sie resolut. Und genauso resolut machte sie sich an die Arbeit.

      Ja, Arbeit war es wirklich. Normales Anlegen brachte nämlich nichts. Also versuchte sie es mit dem Anlegen von außen, von oben, von unten. Ich hätte schon nach einer halben Stunde aufgegeben, aber das ließ die Schwester nicht zu. Nach einer Stunde waren wir beide schweißgebadet. Aufgeben kam immer noch nicht in Frage.

      Etwas später spürte ich plötzlich ein deutliches Ziehen an meiner Brust. Spürte, wie die Milch nach draußen floss, direkt in Cornelius’ Mund. Hörte ihn schmatzen und schlucken. Sah, wie die Stillschwester mindestens so erschöpft wie erleichtert wie glücklich auf einen Stuhl sank. Und hielt wenige Minuten später ein halbsatt eingeschlafenes Stillkind im Arm.

      Es war, als sei ein Schalter umgelegt worden. Seither trank Cornelius direkt bei mir. Zwar immer etwas schwach, da auch seine Mundmuskulatur nicht so kräftig war wie die eines Durchschnitts-Babys. Aber er trank. Er trank bei mir im Bett, er trank im Gottesdienst, er trank bei Ausflügen auf einer Parkbank, er trank vor und nach seiner Ventil-Operation im Krankenhaus. Er trank nachts immer seltener, weil er mit acht Wochen schon fast durchschlief. An heißen Sommertagen trank er stündlich, jeweils fast eine halbe Stunde lang. Ich saß dabei im Gartenstuhl, kühlte meine Füße im Planschbecken, in dem Jacob fröhlich herumspritzte, und genoss Glücksgefühle. Glücksgefühle, auf die ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.

      Allerdings entwickelte sich Cornelius’ Saugkraft nicht in gleichem Maße wie sein Hunger. Was tun? Zufüttern? Nein, meint die Hebamme kategorisch. Sie hatte da etwas anderes im Sinn …

      Was es war, erfuhr ich erst, als sie eines Samstags in Begleitung ihrer Schwester erschien. Die Schwester arbeitete in der Schweiz, in einer Klinik, die auf Säuglinge mit Down-Syndrom spezialisiert ist. Dort hatten sie spezielle Massagegriffe entwickelt, um die Mundmuskulatur der Babys zu stärken. Die wollte sie mir nun zeigen.

      Ich war völlig platt. Da hatte die mir völlig unbekannte Frau gerade einmal ein Wochenende Urlaub, fährt von der Schweiz in den Westerwald zu ihrer Schwester, und was machen die beiden an dem einzigen Nachmittag, den sie gemeinsam hatten? Kommen zu mir, um mir Mundmuskel-Stimulation beizubringen. Das tun keine Menschen, so etwas tun nur Engel!

      Es half tatsächlich. Durch regelmäßiges Massieren aller Gesichtsmuskeln hin zum Mund saugte Cornelius stärker. Ein halbes Jahr lang konnte ich ihn voll stillen! Dann bekam ich doch wieder einmal einen Schub MS, musste Cortisontabletten nehmen und mein Kind deshalb schlagartig abstillen. Aber eben erst im Alter von sechs Monaten. Fast so, als sei Cornelius ein ganz normaler Säugling.

      Was für ein Wunder nach allem, was so deutlich dagegen gesprochen hat! Und was für ein Gott, der das möglich gemacht hat!

      Und was für tolle Menschen, die sich dafür im richtigen Moment als Engel zur Verfügung gestellt haben! Ich habe sie alle nur flüchtig kennengelernt. Ich weiß nicht einmal mehr ihre Namen. Aber ich bin mir sicher: Gott kennt ihre Namen. Und er wird sich eines Tages daran erinnern, dass sie dazu bereit waren, sein Geschenk an mich zu überbringen.

      Wieso, weshalb, warum?

       September 1997

      … wer nicht fragt, bleibt dumm. Wer die falschen Fragen stellt, allerdings auch. Und im Zusammenhang mit behinderten Kindern ist die Frage nach dem Warum allenfalls ein Ausdruck der Hilflosigkeit, aber keine Frage, deren Antwort wirklich weiterhilft.

      Ich für meinen Teil kenne die Antwort inzwischen. Sie lautet L1CAM. Alles klar?

      Was wie ein Passwort für einen Sicherheitsserver im Internet klingt, ist die Bezeichnung für irgendein winziges Teil eines Gens in meinen Zellen, das nicht ganz richtig funktioniert. Im Klartext: Ein Gendefekt. Vererbt über eines meiner beiden X-Chromosome. Da ich zwei von der Sorte besitze, kann das intakte das defekte ausgleichen. Keine Spur von Behinderung bei mir. Allerdings kommt jeder Junge, dem ich mein defektes X-Chromosom vererbe, unweigerlich behindert zur Welt. Denn bei Jungs hat das L1CAM keinen Partner, der den Defekt ausgleichen könnte.

      Und nun? Was fange ich nun mit diesem Wissen an?

      Die einzige Möglichkeit einer Heilung bestünde darin, in jeder Zelle von Jacobs und Cornelius’ Körper das defekte Bruchstückchen eines Gens durch ein gesundes auszutauschen. Der menschliche Körper besteht aus etwa fünfzigtausend Milliarden Zellen. Bei Kleinkindern dürften es ein paar weniger sein. Das würde die Arbeit schon etwas erleichtern. Seltsamerweise hat es trotzdem noch nie jemand versucht.

      Mein Frauenarzt könnte bei jeder weiteren Schwangerschaft das Blut des Embryos auf das L1CAM untersuchen lassen. Im »negativen« Fall könnte ich mich freuen. Im »positiven« Fall müsste ich – laut Ärzten – das Kind nicht zur Welt bringen. Aber würde ich diesen Rat wirklich befolgen? Ganz bestimmt nicht. Also würde ich eben doch ein drittes behindertes Kind bekommen, das meine körperlichen und emotionalen Kräfte endgültig überfordern würde.

      Da ist die Pille noch die beste Lösung.

      Ein Genetiker könnte alle Blutsverwandten auf meinen Gendefekt untersuchen. Braucht er aber nicht. Ich habe keine Schwester, bei der man nun ebenfalls das Erbgut checken könnte, damit sie vor der Zeugung eines Kindes Bescheid weiß. Meine Mutter und meine Großmutter haben auch nur Brüder. Sie selbst haben das zeugungsfähige Alter längst überschritten. Also besteht keine Gefahr einer unwissentlichen Weitergabe des ominösen Erbgut-Passwortes. Wenigstens da haben wir Glück gehabt.

      Mein Ehemann könnte mit dem Wissen, dass meine Gene die Behinderung unserer Söhne ausgelöst haben, etwas anfangen. Er könnte sich eine andere Frau suchen. Eine, die ihm gesunde Kinder schenken kann. So etwas machte man in der Antike. Sollte man meinen. Betroffene Männer kommen

Скачать книгу