Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse. Sabine Zinkernagel

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Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel

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Entwicklung«, »sensorische Integration« und »psychomotorische Frühförderung«. Damit bin ich schon wieder nicht normal. Aber ich kann mir selbst beweisen, dass ich noch in der Lage bin, aus meinen negativen Lebensumständen positives Kapital zu schlagen.

      Dr. D. ist gar nicht darüber entsetzt, dass ich seinen Auftrag nicht so ganz erfüllen möchte. Im Gegenteil, er erklärt mir den Unterschied zwischen Dys-Stress und Eu-Stress und ermutigt mich, die Sache anzupacken. Für ganz heftige Momente verschreibt er mir sogar ein Beruhigungsmittel. Aber erst jetzt. Jetzt zeigt Dr. D. mir ein paar Entspannungsübungen und übt mit mir, gewisse Gedanken mit einem Stoppschild im Kopf auszubremsen. So ausgerüstet, kann ich es hoffentlich schaffen, in der Krabbelgruppe ganz normale Kleinkinder zu erleben, ohne gleich in Tränen auszubrechen.

      Inzwischen habe ich eine Frau aus unserem Dorf zu Dr. D. geschickt. Sie dreht sich seit über einem Jahr nur noch um die Frage, warum ihr Mann so schnell an einem Hirntumor gestorben ist. Aber bei ihr beißt der Arzt auf Granit. Stoppschilder im Kopf fallen schon nach ein paar Stunden wieder um. Eu-Stress-Aufgaben findet sie nicht. Selbst Psychopharmaka bleiben wirkungslos.

      Ich glaube, Dr. D. hätte gerne mehr solche Patienten wie mich. Ich bin also doch noch ganz die alte Sabine: Die Musterschülerin. Früher für den Französischlehrer, heute für den Psychiater. Immerhin.

      Das Ei des Jacobus

       Januar 1998

      Kennen Sie die schöne Erzählung vom Ei des Kolumbus? Ich war schon als Kind fasziniert davon, wie der wackere Seemann das scheinbar Unmögliche vollbrachte, indem er kurz die üblichen Denkmuster verließ. Als seine Gegner ihm vorhielten, auch jeder andere hätte Amerika entdecken können, forderte er sie auf, ein rohes Ei senkrecht auf den Tisch zu stellen. Nach allen Regeln der Physik ist das unmöglich, und natürlich gelang keinem der Anwesenden das Kunststück. Bis schließlich Christoph Kolumbus das Ei nahm, es mit dosiertem Schwung auf die Tischplatte stellte, so dass die Eischale ganz leicht eingedrückt wurde. Und siehe da – das Ei stand senkrecht.

      Im 17. Jahrhundert gab es noch keine IQ-Tests. Hätte es sie gegeben, wäre Kolumbus sicher auf einen Wert von über 120 gekommen. Unser Jacob liegt zwischen 70 und 80. Keine Chance, Seefahrt zu studieren, einen Segelschein zu machen, neue Welten zu entdecken.

      Aber auch er vollbringt das scheinbar Unmögliche, indem er die üblichen Denkmuster verlässt.

      Bevor ich weiter erzähle, überlegen Sie selbst: Ist es möglich, eine mit einer üblichen Kindersicherung geschlossene Autotür von innen zu öffnen? Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Suche nach einer Lösung; Jacob hat es immerhin auch erst nach drei Tagen geschafft. Aber dann innerhalb von etwa 30 Sekunden.

      Bis unser Ältester knapp vier Jahre alt ist, bleibt die Kindersicherung in unserem Auto unbenutzt. Erst ist Jacob gar nicht in der Lage, die Tür von innen zu öffnen, später hat er kein Interesse daran. Bis er schließlich doch den entsprechenden Hebel betätigt – bei Tempo 100 auf der Überholspur. Natürlich schreiten wir Eltern sofort ein und legen den Knopf der Kindersicherung um. Jacob versucht drei Tage lang, seine neue Entdeckung noch einmal durchzuführen. Vergeblich, die Autotür bleibt zu. Nur Mama und Papa sind in der Lage, sie zu öffnen. Und zwar von außen.

      Hat es jetzt bei Ihnen »Klick« gemacht? Nein? Bei Jacob schon. Drei Mal beobachtete er, wie wir die Tür auf bekamen. Beim vierten Mal lade ich erst die Einkäufe aus dem Kofferraum, bevor ich Sohnemann von der Rückbank holen will. Und finde eine sperrangelweit geöffnete Tür samt einem schelmisch grinsenden Jacob vor.

      Ist die Kindersicherung doch nicht eingerastet? Ein kurzer Check bestätigt: Doch, sie ist. Aber das Fenster ist heruntergekurbelt. Und zwar nicht von mir.

      Mein Mund steht wahrscheinlich mindestens so weit offen wie die Autotür. Sollte Jacob tatsächlich ... ? Schließlich mache ich die Probe aufs Exempel: Schließe Fenster und Türe und fordere Jacob auf, auszusteigen. Und siehe da, als wäre es das Logischste der Welt, kurbelt Jacob das Fenster herunter, greift nach außen und öffnet die Autotür. Trotz eingerasteter Kindersicherung.

      »Ach«, denken Sie jetzt vielleicht, »das war ja einfach. So hätte ich das ebenfalls hingekriegt.«

      Genau das sagten auch die Menschen, die um Christoph Kolumbus und sein aufrecht stehendes Ei herum standen. Und der wackere Seemann entgegnete ihnen: »Der Unterschied liegt darin, dass ihr es hättet machen können, ich es aber gemacht habe.«

      Könnte Jacob schon fließend sprechen, würde er das auch sagen.

      Wie schon erwähnt, Christoph Kolumbus war ein hochintelligenter Gelehrter, und Jacob ist ein geistig behindertes Kind. Offensichtlich ist der Unterschied zwischen beidem manchmal gar nicht so groß.

      Offener Brief an Gott 2

       Februar 1998

      Meinen ersten Brief an dich habe ich immer wieder noch einmal gelesen. Heute, nach der Begegnung mit mehreren Engeln und einem Psychiater, mit einer Putzhilfe für die Wohnung und einem nachts schlafenden und tagsüber strahlenden Stillkind, würde ich manches anders formulieren. Ich stehe nicht mehr im ersten Schock vor den Trümmern meiner Träume.

      Kaputt sind sie trotzdem. Immer noch. Und für immer.

      Und mit dieser Aussicht, mit meinem Schicksal, mit dir – da bin ich noch lange nicht fertig. Ich habe dich immerhin schon länger nicht mehr als Sadisten bezeichnet.

      Und ich frage mich ab und zu: Darf man wirklich so mit dir reden? Toben, manchmal sogar fluchen, dich beschimpfen? Nicht irgend wen, sondern den Herrn dieser Welt? Darf ich das?

      Aber was sollte ich sonst tun?

      Brav weitermachen wie bisher, so tun, als ob nichts geschehen wäre?

      Fromme Lieder singen, während es in mir drin dagegen wütet?

      Fromme Gebete sprechen, zu denen mein Herz Nein schreit?

      Fromme Sprüche klopfen, dabei lächeln, und dir in der Hosentasche den Stinkefinger zeigen?

      Mein Gegenüber würde das wahrscheinlich nicht sehen; du siehst es garantiert.

      Deshalb vermute ich, dass es dich nicht sonderlich freut, wenn ich mich in frommer Schauspielerei übe. Selbst wenn ich irgendwann so perfekt sein sollte, dass es für einen irdischen Oscar reichen könnte – den himmlischen Oscar vergibst du gar nicht für Schauspiel-Leistungen, den vergibst du eher für Ehrlichkeit.

      Also schütte ich lieber einfach mein Herz vor dir aus. Egal, wie viele Gedanken und Gefühle dabei sind, die dich vielleicht verletzen. Schließlich kennst du sie ohnehin schon.

      Und schließlich hättest du ihre Entstehung ja ganz einfach verhindern können.

      Auch vorhin hast du meinen Gefühlsausbruch nicht verhindert.

      Hast Cornelius, dieses sonst so friedliche Kind, einfach brüllen lassen. Kein Wickeln, kein Stillen, kein Herumtragen, kein Singen hat geholfen. Über eine Stunde lang. Vielleicht war es auch nur eine halbe. Oder zwanzig Minuten. Egal, es hat gereicht, um Jacob derart zum Lachen zu reizen, dass er wild gackernd von seinem Kinderstühlchen gepurzelt ist. Und ebenfalls angefangen hat zu brüllen.

      Ich weiß, normale Mütter brüllen dann nicht

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