Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse. Sabine Zinkernagel

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Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel

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Andere Frauen können das nur vermuten, ich weiß es aus der Praxis. Dicker Kuss für Martin.

      Ein Statistik-Schüler könnte mir ausrechnen, dass ich jetzt das Anrecht auf sechs gesunde Kinder habe. Denn die Wahrscheinlichkeit auf einen Jungen beträgt 50 Prozent. Und von diesen 50 Prozent bekommt, rein statistisch gesehen, nur die Hälfte mein defektes Gen. Macht eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent. Bei zwei bereits behinderten Kindern würden die restlichen 75 Prozent aus vier Mädchen und zwei gesunden Jungen bestehen.

      Jeder Statistik-Professor würde dem Schüler aber erklären müssen, dass sich das errechnete Verhältnis erst dann auf den statistischen Wert einpendelt, wenn ich eine genügend große Grundmenge Kinder in die Welt setze. So etwa 100.

      Ich weiß von einer Mutter mit dem gleichen Gendefekt. Sie hat es immerhin auf sieben Kinder gebracht, darunter fünf Jungen. Und nur einer hat ihr L1CAM erwischt. Sie fragt sich, wieso es bei ihr ein so geringer Prozentsatz ist. Eigentlich müsste sie mir Statistik-Ausgleichs-Schadensersatz zahlen. Ich habe freundlicherweise darauf verzichtet, ihn einzuklagen.

      Nein, die Frage nach dem Warum führt nicht weiter. Für mich steht eine ganz andere Frage im Raum, drängend, manchmal bedrohlich und jeden Tag neu: Was jetzt?

      Wie gestalte ich mein Leben unter diesen erschwerten Umständen?

      Wie schaffe ich ein innerliches Ja dazu, dass dieses blöde winzige L1CAM alle ganz normalen Zukunftshoffnungen für meine Kinder schon bei ihrer Zeugung einfach durchgestrichen hat?

      Wie kann ich der Versuchung widerstehen, mich der Resignation hinzugeben?

      Das sind die wesentlichen Fragen. Eine feste Antwort darauf habe ich nicht.

      Vielleicht gibt es sie auch gar nicht. Wahrscheinlich muss ich immer wieder neu Antworten darauf finden. Sie werden unterschiedlich ausfallen, je nach Situation, Stimmung und Kraft. Aber ich muss die Antworten nicht alleine finden. Martin sucht natürlich mit. Manchmal liefern unsere Kinder selbst Antworten.

      Und manche Antwort, manche Ermutigung wird mir immer wieder einmal einfach vor die Füße gelegt. Von Gott. Mitten in dem gefühlsmäßigen Chaos, in das ich immer wieder hineinschlittere, schickt er mir Zeichen seiner Fürsorge. Mal groß und unübersehbar, mal unscheinbar klein und kaum erkennbar. Manchmal renne ich blind daran vorbei und erkenne erst im Nachhinein, wo ich wieder einmal beschenkt worden bin.

      Eigentlich ist es schon ein Wunder für sich, dass Gott mir immer noch Zeichen seiner Güte schenkt, obwohl ich sie so oft, blind vor Tränen in den Augen oder Wut im Bauch, liegen gelassen habe.

      Wie gut, dass Gott mehr Geduld mit mir hat als ich selbst. Wie gut, dass ich mich auch für alle eventuellen künftigen Katastrophen in meinem Leben darauf verlassen kann.

      CRASH

       September 1997

      Die Behinderung, die den Defekt des L1CAM auslöst, hat ebenfalls einen Namen: CRASH-Syndrom. Jeder Buchstabe des Syndroms steht für ein Symptom des Gendefektes: Corpus-callosum-Agenesie, mentale Retardierung, adduzierte Daumen, spastische Paraplegie und Hydrozephalus.

      Hinter diesen Fachbegriffen verbergen sich eine ungenügende Verbindung zwischen beiden Hirnhälften, eine verzögerte geistige Entwicklung, eingeschlagene Daumen, eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Spastik und ein Wasserkopf.

      Das alles liest der Mediziner aus diesen fünf Buchstaben C-R-A-S-H. Ausgesprochen wird das Ganze dann eben »Crash«.

      Und klingt somit eher wie: An die Wand gefahren. Totalschaden. Schwerverletzte.

      Mein Bruder hatte einmal einen schweren Verkehrsunfall. Mit Frontalzusammenstoß, Totalschaden und fünf Schwerverletzten. Er hat seinen Crash überlebt. Aber er musste monatelang üben, bis er neu laufen gelernt hatte. Sich hinknien, um Sockelleisten abzustauben, wird er nie wieder können. Aber wenn er mit seinem Sohn Fußball spielt, merkt man ihm nichts mehr an. Und mein Bruder spielt wesentlich lieber Fußball, als Sockelleisten abzustauben.

      Ich werde meinen Großbuchstaben-Crash auch überleben. Aber auch bei mir wird es wohl einige Zeit dauern, bis ich wieder auf die Beine komme. Manches in meinem Leben wird nie wieder so sein, wie es war, und wie es bei 95 Prozent aller Familien in Deutschland ist. Ich werde üben müssen, werde kämpfen müssen, werde Neues lernen müssen. Aber es besteht die Hoffnung, dass man meinem Leben irgendwann nicht mehr als Erstes die »chronisch kranke Frau mit zwei behinderten Kindern« anmerken wird.

      Mein Bruder hat es geschafft, sein Leben nach dem Unfall wieder gut zu meistern. Tausende von Eltern, deren Kind behindert zur Welt gekommen ist, haben das geschafft. Millionen Menschen, deren Lebensplanung einen Totalschaden erlitten hat, haben das geschafft.

      Also kann ich das auch schaffen. Meinen Kindern zuliebe. Und mir selbst zuliebe. Vielleicht vor allem das.

      Psychiater

       Oktober 1997

      Ich bin am Ende. Zumindest fühle ich mich so. Wenn ich vor dem Fenster einen Dreijährigen mit selbst abgerissenen Blumen für Mama in der Hand herumhüpfen sehe, während mein Dreijähriger übt, sich an einem Stuhl zum Stehen hochzuziehen, gehört die nächste halbe Stunde einem Weinkrampf. Am liebsten würde ich mich den ganzen Tag unter der Bettdecke verkriechen. Oder auf die Straße rennen und allen Leuten ins Gesicht schreien, wie schrecklich diese Welt mit mir umgeht. Beides würde an meiner Situation nicht das Geringste ändern.

      Martin hat eine bessere Idee: Er sucht die Adresse eines christlichen Psychiaters und vereinbart gleich einen Termin für mich.

      So tief bin ich also gesunken. Der Psychiater wird mich auf seine Couch legen, sich alles anhören und mich dann mit Psychopharmaka vollpumpen, bis ich nicht mehr geradeaus denken kann. Danach bleibt als nächster Schritt nur noch die geschlossene Psychiatrie.

      Ich gehe trotzdem hin. Vor allem, weil Martin immer noch darauf besteht. Dr. D. arbeitet bewusst auf christlicher Basis. Wir reden aber kaum über Gott. Er kann ja auch dabei sein, wenn man nicht über ihn redet. Dr. D. hat keine Couch, sondern einen verstellbaren Ruhesessel, in dem man sich wunderbar fallen lassen kann. Und einen herrlichen Kaffee.

      Dr. D. hört sich alles an. Geduldig, verständnisvoll. Klar, das ist sein Beruf. Er versteht, dass alles Sich-Zusammenreißen-Wollen nicht funktioniert. Diagnostiziert eine exogene Depression. Das heißt, ich bin nicht von mir aus depressiv, sondern meine Lebensumstände haben mich dazu gemacht. Schön, das habe ich mir schon vorher gedacht. Aber was macht man dagegen?

      Dr. D. verschreibt mir keine Tabletten, sondern erst einmal eine Putzhilfe. Die wird zwar nicht von der Krankenkasse übernommen, aber es hilft. Besonders, wenn ich den Auftrag des Psychiaters beherzige und die gewonnene Zeit dafür nutze, mit Jacob zu toben, mit Cornelius zu kuscheln oder mich einfach in die Sonne zu setzen.

      Das mache ich auch für eine kurze Zeit. Es klappt nicht immer, aber immer öfter. Dann spiele ich doch wieder mit dem Gedanken, anderweitig aktiv zu werden. Eine Krabbelgruppe für unser Dorf gründen, das wäre doch etwas für mich. Es wäre zwar wieder mit Arbeit verbunden, aber mit einer, die mir wesentlich mehr Spaß macht als der Hausputz. Und die mich vielleicht herausholen könnte aus dem ständigen Kreisen um die Ungerechtigkeit des Schicksals. Ich wäre nicht mehr nur die MS-kranke Mutter von zwei behinderten Kindern, sondern

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