Rosenhain & Dschinnistan. Christoph Martin Wieland

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Rosenhain & Dschinnistan - Christoph Martin Wieland

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Anspruch machen können, innern Wert genug besaßen, um neben ihr bemerkt zu werden. Es fiel sehr bald in die Augen, daß es nur auf sie angekommen wäre, sich aller Männerherzen in Trapezunt zu bemächtigen und alle Weiber zur Verzweiflung zu bringen; aber man überzeugte sich auch ebenso bald, daß sie nichts weniger im Sinne habe, als die Rolle einer Ruhestörerin zu spielen. Sie schien vielmehr einen unsichtbaren Zauberkreis um sich her gezogen zu haben, an dessen Rande die Männer alle, gern oder ungern, stehenbleiben mußten; und während sie allen, die den Zutritt in ihre Abendversammlungen hatten, mit gleicher Achtung und Artigkeit begegnete, war keiner, der sich der geringsten Auszeichnung rühmen konnte, welche nicht auf unbestrittene Vorzüge des Geistes und des sittlichen Charakters gegründet gewesen wäre.

      Durch dieses Benehmen erwarb sich Euphrasia – was so selten ist – zu gleicher Zeit mit der Zuneigung und dem Vertrauen ihres eigenen Geschlechts die Hochachtung des andern und erhielt dadurch die stillschweigende Erlaubnis, so liebenswürdig zu sein, als sie wollte, ohne durch Vorzüge, deren sie sich nicht bewußt schien, die Eifersucht des einen Geschlechts zu reizen oder vergebliche Hoffnungen in dem andern zu erregen.

      Weil die Abendgesellschaften in Sophranors Hause von niemand, der zur großen Welt in Trapezunt gehörte oder sich dazu rechnete, unbesucht blieben, so fanden sich auch Narcissus und Narcissa dabei ein, und in ziemlich kurzer Zeit schien jener an Sophranorn und diese an Euphrasien so viel Anziehendes zu finden, daß sie jeden Tag für verloren schätzten, von welchem sie nicht einen großen Teil in ihrem Umgang zugebracht hatten. Sophranor, dem Ansehn nach wenig älter als seine Schwester, heitern und lebhaften Geistes, wiewohl mit einem Ansatz von stiller Melancholie, der vielleicht Ursache war, warum er in den Zirkeln seiner Schwester meistens nur erschien, um wieder zu verschwinden, Sophranor besaß tausend Vorzüge, wodurch sein Umgang einem fürstlichen Jüngling wie Dagobert ebenso nützlich als angenehm sein mußte. Er redete beinahe alle Sprachen, war in allen Wissenschaften bewandert, mit allem, was Kunst heißt, bekannt, hatte alles gesehen, was auf dem ganzen Erdboden sehenswürdig ist, und auf seinen Reisen einen so großen Schatz von seltnen Natur- und Kunsterzeugnissen gesammelt, daß beinahe sein ganzer Palast damit angefüllt war. Die Wißbegierde des von Natur edeln Jünglings fand also hier so reiche Nahrung, und so manche Morgen- und Abendstunden wurden zwischen ihm, Sophranorn und einigen andern einheimischen oder fremden Männern von nicht gemeinem Verdienst mit lehrreichen Unterhaltungen zugebracht, daß Narcissus, indem er so vieles, was ihm fehlte, und so viele, die ihn an innerm Wert übertrafen, kennenlernte, unvermerkt einen großen Teil des sich zu laut ankündenden und übermäßigen Gefühls seiner Vorzüge verlor oder, um alles mit einem Worte zu sagen, täglich immer weniger Narcissus wurde.

      Bei der schönen Narcissa, für welche Euphrasiens hohe und eben darum so anspruchlose Liebenswürdigkeit eine ganz neue Erscheinung war, wirkte der immer vertrautere Umgang mit einer so seltnen Frau ebendieselbe glückliche Veränderung noch schneller. Ihr war, als ob sich ein ganz neuer Sinn für das wahre Schöne und Gute in ihrer Seele auftue, ein Sinn, der bisher geschlummert hatte oder von Wahnbegriffen, Eitelkeit und einer alles bloß auf das unechte Selbst beziehenden Vorstellungsart übertäubt worden war. So wie ihre Anhänglichkeit an Euphrasia zunahm, nahm ihr bisheriges Wohlgefallen an ihr selbst ab; anstatt sich immer in ihrem eignen Bilde zu bespiegeln, verglich sie sich mit ihrer soviel vollkommnern Freundin; und statt stolz darauf zu sein oder nur an sich selbst gewahr zu werden, daß sie ihr täglich ähnlicher wurde, sah sie mit jedem Tage heller, wieviel ihr noch fehle, um der guten Meinung, welche Euphrasia von ihr zu hegen schien, würdig zu sein. Kurz, sie nahm es immer genauer mit sich selbst und errötete, wenn sie sich bei irgendeiner Anmaßung, einem erkünstelten Gefühlsausdruck, oder was sie etwa sonst des bloßen Scheinens wegen gesagt oder getan hatte, ertappte, beinahe ebensosehr, als wenn sie von tausend fremden Augen bei einer schlechten Handlung überrascht worden wäre. Euphrasia wußte, ohne den geringsten Zwang und ohne sich jemals die Miene einer Lehrerin oder Aufseherin zu geben, jeden Anlaß zu benutzen, wo sie auf den Verstand oder das Gemüt ihrer jungen Freundin wohltätig wirken konnte, nicht indem sie ihre eigene Begriffe und Gesinnungen gleichsam in sie hineinschob, sondern indem sie bloß mit leichter Hand und unvermerkt alles wegräumte, was Helianen bisher verhindert hatte, auf die Stimme ihres eigenen Herzens zu lauschen und seinen reinsten Trieben und Gefühlen zu gehorchen.

      Während Heliane und Dagobert, von ihren neuen Freunden täglich mehr bezaubert, sich solchergestalt in ihrem Umgang und durch ihr Beispiel von den Fehlern einer verkehrten Erziehung reinigten, hätte jedermann, nach den äußerlichen Anscheinungen zu urteilen, glauben müssen, das seltsame Verhältnis, worein sie seit dem Abenteuer des Lanzenstechens geraten waren, habe sich endlich in eine entschiedene Gleichgültigkeit aufgelöst. Sie sahen einander zwar alle Tage, wiewohl nie anders als in großer oder wenigstens in Euphrasiens Gesellschaft, schienen aber da so unbefangen und hatten einander so wenig Besonderes zu sagen, daß man deutlich zu sehen glaubte, sie würden sich nicht mehr zu sagen haben, wenn sie sich bloß selbander sähen. Allein das Wahre an der Sache war, daß der lebenskräftige, obschon noch unentfaltete Keim der Liebe, seitdem er von Stolz und Selbstsucht nicht mehr angefochten wurde, sich so tief in ihr Inneres eingesenkt hatte, daß er von ihnen selbst nicht mehr gespürt wurde, aber, während er seine zarten Wurzeln im verborgenen um alle Fasern ihres Herzens schlang, in kurzem nur desto kräftiger und fröhlicher aufschoß, um zu einer der schönsten Blumen zu werden, die jemals in den Gärten der Grazien blühten.

      Helfen Sie mir nur getrost lachen, sagte Rosalinde, indem sie sich selbst lachend unterbrach, über diesen plötzlichen Anfall von Schönrednerei, eine arme unschuldige Metapher zu einer vollständigen zierlichen Allegorie aufzublasen. – Es soll mir nicht wieder begegnen! Ich falle sogleich, wie sich's gebührt, in meinen natürlichen Ton zurück und sage in guter Prose: Es war wohl nicht anders möglich, als daß der tägliche Umgang mit Sophranorn und Euphrasien die auf beständigem Anschauen beruhende Überzeugung in Dagoberten und Helianen hervorbringen mußte, daß wahre Liebenswürdigkeit, auf wahres Verdienst gegründet, ihrer Natur nach bescheiden und anspruchlos ist; und wie hätte diese innige Überzeugung durch eine natürliche Folge nicht auch sie immer bescheidener in ihrer Meinung von sich selbst, immer gemäßigter in ihren Forderungen an andere und, sobald sie dieses waren, auch geschickter und geneigter machen sollen, jedes die Vorzüge des andern zu sehen, zu schätzen und ohne mißtrauisches, eifersüchtiges Abmessen und Abwägen, ob man nicht einen Schritt zuviel tue oder ob das andere nicht mehr von uns empfange als wir von ihm, sich bloß dem reinen Eindruck, den das Liebenswürdige auf unsre Seele macht, zu überlassen.

      Das alles entwickelte sich itzt so leicht und natürlich aus einander, daß sie, anstatt über die Veränderung ihrer ehemaligen Sinnesart betroffen zu sein, sich vielmehr wunderten, wie es möglich gewesen, alle die liebenswürdigen Eigenschaften, welche sie itzt täglich aneinander entdeckten, so lange zu übersehen oder zu verkennen. Sie sahen sich itzt öfters allein und näherten sich einander immer mit dem Zutrauen, welches die Gewißheit zu gefallen voraussetzt, ohne sie anzukündigen. Ihre Gespräche waren zwangfrei, lebhaft und geistreich; an Stoff konnte es so gebildeten Personen, als beide waren, in einem Hause wie Sophranors nie gebrechen; aber, wovon auch die Rede sein mochte, Dagobert wußte ihm eine begeisternde Seite abzugewinnen, und nie wurden wohl, ohne das Wort Liebe jemals zu nennen, mehr in alle mögliche Gestalten und Einkleidungen vermummte Liebeserklärungen getan und ohne Verlegenheit oder Ziererei mit einem feinern Zartgefühl beantwortet als diejenigen, wovon Zelolo und Mahadufa täglich, wenn sie wollten, in den Gärten Sophranors Zeugen sein konnten.

      Inzwischen war die Vertraulichkeit zwischen Sophranor, seiner Schwester und unsern Liebenden auf einen so hohen Grad gestiegen, daß jene sich nicht länger entbrechen konnten, aus dem Geheimnis, worein sie ihren Stand und die Ursache ihres Aufenthalts in Trapezunt allen andern verbargen, für ihre jungen Freunde herauszutreten.

      Ein reizender Sommermorgen hatte sie einzeln in die Gärten herabgelockt und alle vier bei einem kleinen, mit Rosen- und Myrtenbüschen umgebenen Tempel, Amorn und Psychen gewidmet, zusammentreffen lassen, wo sie sich auf einer Moosbank dem lieblichsten aller griechischen Dichterbilder gegenüber niederließen. Alle vier waren von

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