Das kleine 1 x 1 der Oralchirurgie. Группа авторов
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Der Begriff „Anamnese“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet Gedächtnis bzw. Erinnerung. In der zahnärztlichen Praxis wird die Anamnese in der Regel mit standardisierten Fragebögen durchgeführt (Abb. 1-1), die in ausgedruckter Form oder auch digital („online“) durch den Patienten ausgefüllt werden. Die Patientenangaben zur medizinischen/zahnmedizinischen Vorgeschichte sollten immer in einem gezielten Gespräch zwischen Therapeut und Patient nachgefragt bzw. überprüft werden. Nicht selten fehlen relevante Angaben zu vorhandenen Erkrankungen oder der aktuellen Medikation, da der Patient die Fragen im Anamnesebogen nicht richtig versteht, die Medikamentennamen nicht kennt oder diese einfach vergessen hat. Dank der Anamnese wird zudem ein Vertrauensverhältnis zwischen Zahnarzt und Patient aufgebaut, das einen wichtigen Grundstein für die weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritte bildet.
Abb. 1-1 In der zahnärztlichen Praxis und auch an Universitätskliniken wird die Anamnese in der Regel mittels standardisierter Fragebögen vor der eigentlichen Konsultation durchgeführt. Das hier gezeigte Anamneseblatt (a und b) wird am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB verwendet.
Eine Anamnese ist kein statischer bzw. einmaliger Vorgang. Im Gegenteil: Man sollte die Anamnese als opportunistischen Aspekt bei Diagnosefindung, Therapie(-Planung) und Nachsorge in der Zahnmedizin und besonders auch in der Oralchirurgie verstehen. Das heißt, eine Anamnese sollte bei der initialen Befundung ausführlich und detailliert erfolgen, was auch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen kann. Danach sollte die Anamnese bei jeder sich bietenden Gelegenheit kurz geprüft und falls nötig angepasst werden, was den opportunistischen Charakter der Anamnese unterstreicht. Somit ist die Anamnese als dynamischer Prozess in der oralchirurgischen Therapie zu verstehen.
Eine Anamnese wird nach folgenden Teilaspekten strukturiert:
■die medizinische bzw. allgemeine Anamnese,
■die Sozial- und Familienanamnese und
■die spezifische zahnärztliche Anamnese, welche die aktuellen Beschwerden und auch den Grund des Arzt-/Zahnarztbesuchs (subjektiver Patientenwunsch) erfassen soll.
Bei Patienten mit Demenz sollte die Anamnese idealerweise unter Hinzuziehung einer für den Patienten verantwortlichen Person erfolgen. Bei Verständigungsproblemen (beispielsweise bei Migranten/Asylsuchenden) sollte ein Dolmetscher organisiert werden. Bei Minderjährigen ist eine erziehungsberechtigte Person einzubeziehen. Im Folgenden soll auf die einzelnen Aspekte der Anamnese im Detail eingegangen und deren Bedeutung für die Diagnosestellung, Therapieplanung und auch Nachsorge zur Vermeidung von Komplikationen dargestellt und diskutiert werden.
Die allgemeine Anamnese: Erfassung der medizinisch relevanten Diagnosen und Medikation
Die allgemeine Anamnese wird meist primär in Form von standardisierten Fragebögen erhoben, um wichtige Punkte der Allgemeingesundheit zu erfassen und um anschließend ein gezieltes Gespräch mit dem Patienten bzw. ein Nachfragen zu ermöglichen. Es werden alle relevanten durchlaufenen oder aktuellen Erkrankungen und Diagnosen des Herz-/Kreislaufsystems, Gastrointestinaltrakts, Stoffwechsel-, Nerven-, Blut- und Gerinnungssystems, Bewegungsapparats sowie etwaige Infektionskrankheiten erfasst. Durch die demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft hin zu einer immer älteren Bevölkerungsstruktur wird das Erkennen von Patienten unter Polypharmazie und mit Multimorbidität immer relevanter.
Eine einheitliche Begriffsdefinition von Polypharmazie (Synonyme: Polymedikation, Polypharmakotherapie) existiert leider nicht. In der Regel ist die Anzahl von (gleichzeitig) eingenommenen Arzneimitteln das Kriterium der Definition, wobei die konkrete Anzahl in der Literatur variiert. Am häufigsten wird die Menge von fünf oder mehr gleichzeitig eingenommenen Arzneimitteln genannt. Als Multimorbidität wird das gleichzeitige Auftreten von zwei oder mehr chronischen Krankheiten definiert. In der Schweiz sind heute rund 30 % aller Personen definitionsgemäß multimorbid, wobei diese Tendenz steigend ist. Multimorbidität und Alter sind als Hauptrisikofaktoren für eine Polypharmazie zu betrachten. Dies zeigt sich exemplarisch an folgenden eindrucksvollen Zahlen: 80 % der > 70-Jährigen in der Schweiz nehmen täglich Medikamente ein, davon 50 % fünf und mehr pro Tag. Wenn sich also Patienten ab 60/70 Jahren als völlig gesund bezeichnen und auch die Einnahme von Medikamenten verneinen, lohnt es sich nachzufragen (Abb. 1-2).
Abb. 1-2 Zwei Beispiele, wie Patienten auf Nachfrage nach Medikamenteneinnahme reagieren: a) Eine 75-jährige Patientin zeigt das Kärtchen zur regelmäßigen Kontrolle des INR-Wertes (mitsamt Quick) und auch ihre selbst geführte Medikamentenliste, wobei die Häkchen die derzeit eingenommenen Medikamente kennzeichnen. Momentan sind dies inkl. der Antikoagulation fünf Stück; somit liegt eine Polypharmazie vor. b) Eine knapp 80-jährige Patientin aus Hong Kong führt keine separate Medikamentenliste, aber hat alle eingenommenen Medikamente inkl. Dosierungsschema zur Erstkonsultation mitgebracht.
Zudem kann auch – das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt – gezielt beim Hausarzt nachgefragt werden. Besonders vor geplanten invasiven oralchirurgischen Eingriffen kann es äußerst wichtig sein, dass das durch den Patienten gewonnene Wissen sowie die Krankengeschichte interdisziplinär vernetzt werden und Berichte, Diagnose- und Medikamentenlisten beim Hausarzt und beim Facharzt angefragt werden. Diese Angaben gilt es regelmäßig zu aktualisieren. Im folgenden Abschnitt sollen einige wichtige Problemkreise und potenzielle Risikofaktoren kurz hervorgehoben werden.
Infektionskrankheiten
Für die Zahnärztin und das Praxispersonal ist es wichtig zu wissen, ob eine Infektionskrankheit, wie beispielsweise HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) oder Hepatitis, vorliegt, damit entsprechende Schutzmaßnahmen getroffen werden können. Zudem kann dann im Verlauf der extra- und intraoralen Untersuchung auf gegebenenfalls vorhandene typische kutane oder orale Effloreszenzen geachtet werden.
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellen kardiovaskuläre Erkrankungen bei Menschen ab 50 Jahren die häufigste Gruppe der chronischen Erkrankungen dar. Dabei ist es besonders wichtig zu erfassen, ob der Patient Antikoagulanzien einnimmt, da dies eine erhöhte Blutungsneigung bei Eingriffen zur Folge hat. Idealerweise sollten die verschiedenen Gruppen von Antikoagulanzien (Vitamin-K-Antagonisten, neue direkte orale Antikoagulanzien, Thrombozytenaggregationshemmer) vor Therapiebeginn erkannt und ihre Wirkung bzw. deren Risiken im Zusammenhang mit dem Eingriff verstanden werden. Liegt ein Endokarditisrisiko vor (z. B. Patienten mit Herzklappenersatz oder angeborenen Herzvitien), ist eine antibiotische Prophylaxe vor oralchirurgischen oder auch parodontalen Eingriffen indiziert.
Knochenstoffwechsel (vor allem antiresorptive Medikation)
Bei älteren Patienten ist es ratsam gezielt nach einer Osteoporose (Cave: auch bei Männern, wobei dies oft eine Lebensdekade später relevant wird) oder einer onkologischen Grunderkrankung nachzufragen – dies besonders im Hinblick auf die aktuelle oder frühere Einnahme antiresorptiver Medikamente, wie Bisphosphonate oder monoklonale Antikörper