Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder
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Читать онлайн книгу Engadiner Hochjagd - Gian Maria Calonder страница 5
»Ja, das Wohlwollen. Zu deiner Erinnerung: Im Zweifelsfall gilt die Unschuldsvermutung. Das steht im Gesetz. Und ist der Zweifel so verschwindend gering wie etwa bei Tumasch und Meta, dürfen wir uns durchaus die Kompetenz herausnehmen, diesen letzten winzigen Zweifel stillschweigend zu beerdigen.«
Roman hatte sich echauffiert, auf seine Stirn waren viele kleine Schweißtropfen getreten. Capaul hatte irgendwie Mitleid mit ihm, trotzdem konnte er es nicht lassen zu bemerken: »Also für mich klingt das nach Wildem Westen.«
Roman schnaubte. »Nenn es, wie du willst. Für mich ist es gesunder Pragmatismus, basta.« Er gab der Wirtstochter ein Zeichen, und sie brachte den Kaffee.
Gleichzeitig erschien ein hochgewachsener Mann mit markantem Gesicht im Küchendurchgang. Er kam beschwingt an den Tisch und erklärte: »Der geht aufs Haus. Hat es geschmeckt?«
»Eins a, wie immer«, antwortete Roman schon fast wieder ruhig. »Das ist Massimo, ein Neuzugang.«
»Emil, der Wirt. Willkommen in der schönen Provinz.« Markig schlug er in Capauls dargebotene Hand ein. »Maria, bringst du uns bitte drei Amari?«
Sie hatten offenbar schon parat gestanden. Nachdem Maria sie gebracht hatte, erhob Emil das Glas und verkündete launig: »Auf den armen Tumasch! Er hat den Tod gefunden, den er verdiente. Und auf Meta, die Gute, Tapfere! Was sie nicht schon alles ertragen musste.«
Roman seufzte zustimmend, dann tranken sie ihre Gläser leer.
»Was heißt ›den Tod, den er verdiente‹?«, erkundigte sich Capaul.
»Kurz und schmerzlos«, erklärte Emil. »Dazu liebte Tumasch Steine über alles. Man möchte fast sagen, Steine waren sein Leben. So gesehen hatte er einen Prachtstod. Ein Dreißigtausendtonnendenkmal, was kann man sich Schöneres wünschen? Sagt übrigens Meta, die Leichenfeier geht auf mich.«
Capaul wollte dagegenhalten, doch Roman kam ihm zuvor: »Offiziell ist Tumasch erst tot, wenn das Zivilstandesamt eine entsprechende Meldung macht.«
»Seht ihr denn noch Hoffnung?«, fragte Emil.
»Nein«, sagte Roman.
»Hoffnung gibt es immer«, antwortete Capaul zeitgleich, was Roman mit der Bemerkung kommentierte: »Er ist noch jung.«
Emil lächelte.
»Was ist Hoffnung?«, fragte er, die Antwort gab er selbst. »Für eine verlorene Seele wie Tumasch ist die einzige Hoffnung, dass irgendwann alles endet. Selbst wenn die Trümmer ihm noch nicht den Rest gegeben haben sollten, selbst wenn er verletzt, zerquetscht, ausgeblutet dort am Berg in Staub und Schutt liegt, um allmählich zu verdorren, wird er keinen Augenblick darum beten, gerettet zu werden, sondern immer nur darum, dass ihn bald der Tod ereile.«
»Was macht dich so sicher?«, fragte Capaul.
Emil dachte kurz nach. »Seit zehn Jahren führe ich jetzt dieses Hotel. Ich sehe die Männer am Stammtisch. Ich sehe die Männer, die den Stammtisch meiden und allein sitzen. In welcher Verfassung sie sind, erkenne ich an der Art, wie sie ihr Bier trinken, hastig, achtlos, bedachtsam, gierig oder mit heimlichem Ekel. Tumasch trank seines gar nicht. Er vergaß es. Er saß eine Stunde, zwei Stunden lang hinter dem vollen Glas, innerlich ausgelöscht. Eine Hülse. Er lebte nicht mehr, er saß seine Lebenszeit ab wie eine Strafe.« Er hatte sich vorgebeugt und die letzten Sätze ganz leise gesprochen, im Tonfall eines Märchens.
»Seine Strafe wofür?«, fragte Roman gebannt.
Emil lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Ich weiß es nicht.«
Capaul wollte wissen: »Warum hat er sich dann nicht umgebracht?«
»Weil die Strafe gerecht war, nehme ich an«, sagte Emil fast süffisant. »Er hat sie angenommen. Nein, mehr noch: Er hat sie verschärft. Er hat die letzten Jahre damit zugebracht, Steine zu schleppen wie ein Zuchthäusler.«
»Bisher hatte ich bei Tumasch das Bild von einem Dorftrottel«, gestand Capaul, »doch in deinen Augen ist er fast ein Philosoph.«
»Wo ist der Unterschied?«, fragte Emil.
Und Roman lachte: »Emil ist unser Philosoph.« Dann schlug er mit den Handflächen auf den Tisch und stand auf. »Die Mittagspause ist vorbei, mich ruft das Büro. Du, Capaul, suchst inzwischen jemanden, der bezeugen kann, dass Tumasch gestern auf der Alp d’Immez war.«
»Und wo finde ich diesen Zeugen?«
Emil begleitete sie hinaus.
»Es gibt zwei Orte, an denen die Leute gesprächig werden, das Wirtshaus und den Friedhof.«
III
Capaul ließ sich den Weg zur Baselgia San Güerg zeigen. Während er die Dorfstraße entlangging, hörte er es dreimal vom Piz Linard her knallen. Ein rotbackiger Vierzigjähriger, der übers Handy gebeugt auf dem Kinderspielplatz beim Volg gesessen hatte, sah auf.
»Wenn das nur kein neuer Felssturz ist«, sagte Capaul.
»Nein, das waren Schüsse«, behauptete der Mann. Er war blond mit Tendenz zur Mittelglatze, trug ein goldenes Handkettchen und moderne Funktionskleidung. »Von einem Felssturz würde man hier im Dorf allenfalls ein Rumpeln hören. Man hat mich schon gewarnt, es ist chatsch’extra, Nachjagd. Mittwoch, Samstag und Sonntag werden die Rehe und Hirsche abgeknallt, die die Jäger im September verpasst haben.« Er stand auf, schulterte den Rucksack und bog auf den Weg zum Piz Linard ein. Capaul ging in die andere Richtung, doch dann überlegte er es sich anders und folgte dem Blondschopf unter der Eisenbahnlinie und der Straße hindurch bis zum Parkplatz Chamonna dal Linard, wo er am Morgen Barbla und Roman kennengelernt hatte.
»He«, rief er. Der Mann blieb stehen und drehte sich um. »Wenn da oben geschossen wird, sollten Sie Ihre Wanderung besser auf einen anderen Tag verschieben.«
»Wo ich hingehe, ist Wildschutzzone.«
»Und wo wäre das?«
Der Blondschopf zeigte hoch zur Val Lavinuoz.
»Der Weg ist gesperrt, und nicht ohne Grund.«
»Der Felssturz, ich weiß Bescheid. Mein Name ist Freitag, ich bin Kantonsgeologe und verantwortlich für dieses Gebiet. Ich weiß sehr wohl, was ich tue.«
Sie schüttelten die Hände.
»Capaul, Kantonspolizei. Warum hat mir niemand gesagt, dass Sie kommen?«
»Ich hätte mit dem Hubschrauber fliegen sollen, der Flug wurde abgeblasen. Es hat mir aber keine Ruhe gelassen, einen Felssturz von diesem Ausmaß hatten wir nicht erwartet. Ich muss mir unbedingt die Abbruchstelle ansehen.«
»Nehmen Sie mich mit?«
»Haben Sie einen Helm?«
»Nein, aber ich kann ja Abstand halten.«
»Wenn Sie Abstand halten wollen, bleiben Sie hier. Die Anweisung, die ganze Val Lavinuoz abzusperren und nicht nur die Alp d’Immez, kam von mir, und nicht von ungefähr. Die Steinmassen