Achtung! Totes Gleis. Arno Alexander
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Jim Crocks, der Mann mit dem schwarzen Hut, lehnte heute genau wie gestern und vor zwei Wochen gegen neun Uhr abends nachlässig am Schanktisch in der Bar. „Die schiefe Ecke“, hatte immer noch den schwarzen Hut auf und trank wie stets aus Ermangelung eines Besseren Himbeerlimonade. Eine dicke Zigarre zwischen den Lippen, stierte er vor sich hin auf die flinken Hände des Barfräuleins, das vor seinen Augen mit großer Geschwindigkeit die verschiedensten Getränke für eilige und müßige Gäste bereitete.
„Fräulein, der Mann hat um fünfzig Cent zu wenig bezahlt“, sagte Jim Crocks gemächlich. Dabei hatte er den Mann auch schon am Kragen festbekommen und ließ ihn erst los, nachdem ein blankes Fünfzigcentstück auf den Tisch fiel. Im übrigen waren Jim Crocks sowohl dieser Mann als das hübsche Fräulein furchtbar gleichgültig. Wenn er sich um diese Kleinigkeit kümmerte, geschah es nur aus Langeweile und einem angeborenen Gerechtigkeitsempfinden. Dieses Empfinden erstreckte sich aber keinesfalls auch auf Raubüberfälle bei Eisenbahnzügen und ähnliche „große Sachen“.
Nein, Jim Crocks kümmerte sich nicht um das hübsche Barfräulein, denn Jim Crocks hatte seit drei Monaten ein festes Verhältnis. Er war überzeugt, daß er sein Mädchen lieb hatte, und sie liebte ihn ganz bestimmt ebenso tief. Es war eine ruhige, anständige Liebe — nicht eine von der Art, die einem das Essen verleidete und den Geschäftsgang beeinträchtigte.
Ein Mann, klein und schmächtig, mit spärlichem, schwarzem Bärtchen, drängte sich an die Bar heran. Er begrüßte niemanden, und auch ihn grüßte niemand, obwohl ihn fast alle kannten, die hier verkehrten. Dieses Männchen lebte vom Zutragen nicht ganz ungefährlicher Nachrichten. Man nannte ihn Spitzel, da es ihm nicht darauf ankam, mal auch eine Nachricht der Polizei zuzutragen. Man verachtete ihn, aber hin und wieder brauchte man ihn auch. Hatte er einmal aufs neue der Polizei Nachrichten zugetragen, so wurde er in irgendeiner stillen Seitenstraße ruhig und ohne Aufhebens von mehreren Männern so lange geprügelt, bis ihm nach Ansicht der Strafvollzieher für absehbare Zeit die Lust verging, seine Beziehungen zur Polizei weiter auszubauen.
„Nun?“ fragte Crocks rauh, ohne von seinem Glas aufzublicken.
„Er wird kommen“, raunte das Männchen heiser.
Crocks fischte einen schmierigen Dollarschein aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch.
„Aber Sie sagten doch, ich bekäme zehn ... zehn schöne Dollar“, wandte der schmächtige Mann schüchtern ein.
„Er ist noch nicht gekommen“, schnitt Crocks ab. „Wir reden später darüber.“ Plötzlich drehte er sich heftig dem Mann zu. „Was willst du noch? Scher dich zum Teufel!“
Das kleine Männchen zog sich erschrocken zurück und setzte sich in die äußerste Ecke an ein freies Tischchen. Von hier aus konnte man, ohne aufzufallen und ohne jemanden zu belästigen, alles beobachten, was an der Bar vorging.
Crocks rückte ein wenig beiseite, so daß er den Blick von nun an auf die Eingangstür gerichtet hielt. Es verging aber noch eine lange Zeit, bis er endlich den Mann erblickte, dessen Kommen ihm angekündigt worden war.
Es war George Wessley. Crocks wußte es sofort, als er ihn erblickte, obwohl er ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Aber Wessley sah nicht nur genau so aus wie auf den Lichtbildern, die Crocks in der Tasche hatte, sondern er trug sogar denselben feinen Mantel und Hut wie auf einem der Bilder. Auch das Stöckchen fehlte nicht, denn Wessley hatte sich inzwischen ein neues gekauft.
Er war durch die hohe Drehtür getreten und sah sich suchend um. Bestimmt bemerkte er das kleine Männchen in der Ecke, das er ja kennen mußte, aber er beachtete es nicht, sondern schritt ruhig auf einen freien Tisch in der Nähe der Bar zu. Er legte den nagelneuen Hut neben sich auf einen Stuhl, zog die gelben Handschuhe aus, bestellte sich etwas zu essen und zu trinken und vertiefte sich ins Lesen einer mitgebrachten Zeitung.
Die vornehme Erscheinung Wessleys fiel in dieser Umgebung nicht auf, denn es verkehrten hier viele Männer, deren durch die Steuerbehörde nicht nachweisbares Einkommen eine ebenso feine Kleidung erforderlich machte. Aufgefallen wäre nur, wenn Wessley sich hier viel umgesehen und andere Leute beobachtet hätte; aber davor hütete sich der junge Kapitän, denn er wußte genau, in welcher Art Bar er sich befand.
Der Tip, den ihm der kleine schwarzbärtige Mann gegeben hatte, war gut. Es fragte sich nur, ob der Mann auch die Wahrheit gesprochen hatte. In dieser Bar sollte nach seinen Angaben Sherbourgh vor der Verhaftung viel verkehrt haben, und wenn das stimmte, war es nicht unwahrscheinlich, daß Sherbourgh hier auch den „Mann mit dem schwarzen Hut“ kennengelernt hatte. War es da nicht möglich, diesen Mann auch jetzt noch hier zu treffen oder etwas über ihn zu erfahren?
Wessley las seine Zeitung, und er las sie wirklich: Er wußte, daß die meisten Besucher dieser Bar es unschwer erkennen würden, falls er nur so tat, als lese er. Und Wessley war so sehr ins Lesen vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie und woher die Dame gekommen war, die jetzt mit einer schüchternen Entschuldigung an seinem Tisch Platz nahm.
„Oh, bitte, Sie stören mich gar nicht“, sagte der Kapitän freundlich und rückte ein wenig zur Seite. Mit dem geübten Auge des Kriminalbeamten betrachtete er unauffällig und doch aufmerksam das bleiche, etwas müde Gesicht des vielleicht zweiundzwanzigjährigen jungen Mädchens an seinem Tisch. Innerlich stellte er etwas befremdet fest, daß dieses Mädchen in keiner Weise hierher paßte. Weder konnte sie die Freundin eines der hiesigen Geschäftemacher sein, noch war es denkbar, daß sie zu jener Art Frauen gehörte, die sich um diese Zeit mit Vorliebe an den Tisch eines einsamen Herrn setzen.
Sie sah ängstlich aus, und ihre großen blauen Augen blickten mit einer stummen, erschreckten Frage bald den einen, bald den anderen der lebhaften und etwas auffallenden Gäste an. Sie trug ein graugestreiftes Jackettkostüm, das sie wohl vorzüglich kleidete, aber doch einen etwas abgetragenen Eindruck machte. Das fiel um so mehr ins Auge, als die meisten der anwesenden Damen in großer Abendkleidung waren.
„Was darf es sein?“ erkundigte sich der Ober bei der Fremden in einem so herablassenden Ton, daß Wessley an sich halten mußte, um eine scharfe Rüge zu unterdrücken.
„Kaffee“, sagte sie leise, kaum hörbar.
Fünf Minuten darauf brachte der Ober den verlangten Kaffee. Er stellte das Geschirr mit betonter Absichtlichkeit geräuschvoll und nachlässig auf den Tisch, wie es ein Ober nur dann tut, wenn er von vornherein die Hoffnung auf ein anständiges Trinkgeld aufgibt.
„Darf ich gleich um Kasse bitten?“ erkundigte er sich darauf gleichmütig und sah starr nach der Tür.
In das blasse Gesicht der Fremden stieg jähe Röte. Hastig nestelte sie an ihrer Handtasche und suchte ein Geldstück hervor.
Wessley räusperte sich drohend. Er war empört, aber er wollte in dieser Bar einen Auftritt nach Möglichkeit vermeiden. Schließlich befand er sich ja hier in dienstlicher Eigenschaft und durfte sich nicht die Aussichten auf den Erfolg seiner Nachforschungen mutwillig verderben.
Achtlos strich der Ober das Geldstück ein und sah Wessley abschätzend von der Seite an.
„Wünscht der Herr vielleicht einen anderen Tisch?“ erkundigte er sich zuvorkommend und bewies mit dieser Frage, daß er Wessley ganz und gar falsch verstanden hatte.
„Ich wünsche keinen anderen Tisch“, sagte der Kapitän beherrscht, aber streng. „Ich wünsche