Erlösung und Utopie. Michael Löwy

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Erlösung und Utopie - Michael Löwy

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Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft: Es reicht, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten an Namen wie Noam Chomsky, Bernie Sanders, Noami Klein, Judith Butler zu erinnern. In Frankreich war Stéphane Hessel, der in seiner Jugend Walter Benjamin kennen lernte, Autor einer Broschüre, Indignez-vous! (2010), die in zig Sprachen übersetzt und in Millionen von Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet wurde, und die letztlich in direkter Weise zu der Bewegung der „Empörten” in Spanien, Griechenland, den Vereinigten Staaten usw. beitrug. Aber zwischen diesen Persönlichkeiten – und vielen weiteren, die erwähnt werden könnten – gibt es keine gemeinsame Kultur, die auch nur entfernt der ähnelte, die wir im deutschen Judentum des Beginns des 20. Jahrhunderts zu identifizieren versuchen.

      Dasselbe lässt sich von den Bewegungen mit libertärer Inspiration in der gegenwärtigen Welt auch jenseits der jüdischen Gemeinschaften sagen: Erfahrungen wie die der Zapatista in Mexiko oder der revolutionären Kurden in Rojava (im Norden Syriens) sind sehr wichtig und wecken in planetarischem Ausmaß viel Sympathie. Einer der wesentlichsten Ideengeber des Versuchs, eine nichtstaatliche Demokratische Konföderation in Kurdistan ins Leben zu rufen, ist der amerikanische Anarchist Murray Bookchin, Sohn von Emigranten russischer Juden. Sollte Bookchin tatsächlich etwas mit Gustav Landauer und anderen deutschen libertären Juden der Jahre 1905 bis 1945 gemein haben? Ich muss diese Frage offenlassen.

      Das alles heißt nicht, dass man in dem weiten intellektuellen, kritischen und subversiven, melancholischen und utopischen Arsenal der jüdischen Kultur von Mitteleuropa des vergangenen Jahrhunderts nicht Ideen, Begriffe und „Wunschlandschaften” (Bloch) finden könnte, die für die heutigen Kämpfe Relevanz haben. Solange es Kämpfe und Anliegen gibt, die auf „eine radikale Idee der Freiheit” ausgerichtet sind – so Walter Benjamin im Blick auf den Surrealismus – wird dieses Erbe nicht vergessen sein.

      Michael Löwy

      Paris, Oktober 2020

      INHALT

       Einleitung

       Die Besiegten der Geschichte

       Kapitel 1

       Zum Begriff der Wahlverwandtschaft

       Kapitel 2

       Jüdischer Messianismus und libertäre Utopie – Von den »Korrespondenzen« zur »attractio electiva«

       Kapitel 3

       Parias, Rebellen und Romantiker: Versuch einer soziologischen Analyse der jüdischen Intelligenz in Mitteleuropa

       Kapitel 4

       Religiöse Juden mit anarchistischen Tendenzen: Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem, Leo Löwenthal

       Kapitel 5

       »Theologia negativa« und »utopia negativa«: Franz Kafka

       Kapitel 6

       Abseits und am Scheideweg: Walter Benjamin

       Kapitel 7

       Zwischen Assimilation, religiösem Atheismus und libertärer Utopie: Gustav Landauer, Ernst Bloch, Georg Lukács, Erich Fromm

       Kapitel 8

       Kreuzwege, Treffpunkte und Figuren: einige Beispiele

       Kapitel 9

       Eine französische Ausnahme: Bernard Lazare

       Schlußbemerkung

       Der »historische Messianismus« als romantische/messianische Konzeption der Geschichte

       Bibliographie

       Personenindex

      EINLEITUNG

      Die Besiegten der Geschichte

      Unsere Generation wird bezahlt für ihr Wissen, denn das einzige Bild, das sie hinterlassen wird, ist das einer besiegten Generation. Dies wird ihre Hinterlassenschaft sein für die, die nach ihr kommen.

      Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1940.

      Der Begriff »Mitteleuropa« bezeichnet eine geographische, kulturelle und geschichtliche Vorstellungswelt, die durch die deutschsprachige Kultur vereinheitlicht wird: Deutschland und die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Während eines Zeitraums, der von der Mitte des 19. Jahrhundert bis 1933 reichte, hat die jüdische Gemeinschaft Mitteleuropas eine kulturelle Blüte erlebt, die alle Kategorien sprengte, ein Goldenes Zeitalter, das sich nur mit der jüdisch-arabischen Kultur des 12. Jahrhundert in Spanien vergleichen läßt. Diese Kultur des deutschen Judentums war das Produkt einer einzigartigen geistigen Synthese und hat der Welt Heine und Marx geschenkt, Freud und Kafka, Ernst Bloch und Walter Benjamin. Sie erscheint uns heute wie eine verschwundene Welt, ein Kontinent, den die Geschichte ausgelöscht hat, ein im Ozean versunkenes Atlantis mit seinen Palästen, Tempeln und Monumenten. Von der Flut des Nationalsozialismus hinweggespült, konnte sie nur im Exil überleben. Ihre Vertreter wurden in alle Winde zerstreut. Die letzten Überlebenden, die letzten Funken eines gewaltigen geistigen Feuers, sind vor kurzem erloschen: Marcuse, Fromm, Bloch.

      Doch in dem, was unser 20. Jahrhundert an kulturellem Reichtum und geistiger Erneuerung hervorgebracht hat, haben sie bleibende Spuren hinterlassen: in der Wissenschaft, der Literatur und der Philosophie.

      Diese Arbeit widmet sich einer ganz bestimmten Generation, einer ganz bestimmten geistigen Strömung im Universum der jüdischen Kultur in Mitteleuropa: einer Generation von Intellektuellen,

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