Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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Ebenfalls Dank sagen möchte ich ganz besonders Miguel Abensour, dessen Ratschläge und kritische Stellungnahmen mir sehr nützlich waren bei der Endfassung dieses Textes.
Während ich dieses Buch schrieb, hörte ich die interessanten Vorträge über Walter Benjamin von Professor Stéphane Mosès in der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris). Seine Überlegungen haben ohne Zweifel meine Benjamin-Interpretation und einige meiner allgemeinen Schlußfolgerungen beeinflußt.
KAPITEL 1
Zum Begriff der Wahlverwandtschaft
Hundert Jahre nach Auguste Comte verwendet die Soziologie immer noch die Terminologie der Physik und der Biologie. Wäre es nicht endlich an der Zeit, mit dieser positivistischen Tradition zu brechen und ein spirituelles und kulturelles Kapital in Anspruch zu nehmen, das reicher ist, sinnvoller, lebensnäher? Was spricht dagegen, das Fachvokabular der Sozialwissenschaften um die unerschöpfliche Ausdruckskraft des religiösen, mythologischen und literarischen Sprechens zu erweitern, nicht zu vergessen die Esoterik? Hat Max Weber den Begriff des Charisma nicht von der christlichen Theologie übernommen, hat Karl Mannheim seine »Konstellation« nicht der Astrologie entlehnt?
Die Arbeit ist eine Studie über die Wahlverwandtschaft. Der Ausdruck hat eine eigenartige Geschichte: Von der Alchimie geht er über zur Soziologie, wobei er bei der romantischen Literatur Zwischenstation macht. Seine Fürsprecher sind Albertus Magnus (13. Jahrhundert), Johann Wolfgang von Goethe und Max Weber … Wir wollen versuchen, sämtliche Bedeutungsschichten zu integrieren, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, und bezeichnen als »Wahlverwandtschaft« eine ganz besondere Art dialektischer Beziehung, die sich zwischen zwei sozialen oder kulturellen Konfigurationen ansiedelt und die auf eine direkte kausale Determinierung oder auf »Einfluß« im traditionellen Sinne des Wortes nicht zurückzuführen ist. Zugrunde liegt eine bestimmte strukturelle Analogie, von der eine Bewegung des Konvergierens, der gegenseitigen Anziehung und des aktiven Zusammenfließens ausgeht und die eine Vereinigung bewirkt, die zur Verschmelzung führen kann. Unserer Meinung nach dürfte es interessant sein, den Begriff zur Methode zu erheben, zu einem Instrument interdisziplinärer Forschung, das uns erlaubt, Verhältnisse zwischen ökonomischen, politischen, religiösen und kulturellen Phänomenen intensiver wahrzunehmen und zu beschreiben.
Um die unterschiedlichen Bedeutungsschichten des Begriffs zu erschließen, beginnen wir mit einem kurzen Abriß seiner Geschichte.
In der griechischen Antike taucht der Gedanke auf, die Bereitschaft der Körper, sich zu vereinigen, resultiere aus einer sichtbaren oder verborgenen Ähnlichkeit. Wir finden ihn vor allem in der Formulierung des Hippokrates: omoion erchetai pros to omoion (simile venit ad simile). Aber die Bezeichnung Affinität als Metapher der Alchimie findet sich erst im Mittelalter; die erste Quelle ist wahrscheinlich Albertus Magnus, nach dem sich der Schwefel mit den Metallen verbindet, weil er mit ihnen verwandt ist: Propter affinitatem naturae metalla adurit. In Deutschland greift den Gedanken Johannes Conradus Barchusen, ein berühmter Alchimist des 17. Jahrhunderts, auf, er spricht von reciprocam affinitatem1, desgleichen Boerhaave, ein Niederländer des 18. Jahrhunderts. In seinem Buch Elementa Chemiae (1724) erklärt er: Particulae solventes et solutae se affinitate suae naturae colligunt in corpora homogenea. Die Beobachtung des Verhaltens von Gold und Königswasser in einem Gefäß läßt ihn feststellen: »Warum sinkt das Gold, das achtzehnmal schwerer wiegt als Königswasser, nicht auf den Grund des Gefäßes? Seht ihr nicht deutlich, daß jedem Teilchen Gold und jedem Teilchen Königswasser eine Kraft innewohnt, die bewirkt, daß sie sich suchen, vereinigen und finden?« Diese Kraft ist die Affinität. Sie bewirkt die Verbindung der beiden heterogenen Körper in einer Vereinigung, die einer Ehe vergleichbar ist, einer noce chimique – alchimistische Hochzeit –, eher aus der Liebe geboren denn aus Haß: magis ex amore quam ex odio.2
Der Begriff attractiones electivae erscheint zum ersten Mal bei dem schwedischen Chemiker Torbern Olof Bergman. Seine Schrift De attractionibus electivis (Uppsala 1775) wird auf Französisch unter dem Titel Traité des affinités chimiques ou attractions électives (1788) veröffentlicht. Zur Terminologie erklärt Bergman: »Einige verwenden den Begriff Affinität für das, was wir Attraktion genannt haben. Ich werde im folgenden beide Begriffe gebrauchen, obwohl der erste, bildhaftere, für eine physikalische Untersuchung weniger geeignet erscheint.«
De Morveau, ein französischer Chemiker und Zeitgenosse Bergmans, betont in der Auseinandersetzung mit diesem, bei der Affinität handle es sich um einen besonderen Fall von Attraktion, bei der die Anziehungskraft besonders groß sei. Dank ihrer bildeten zwei oder mehrere Körper »ein Wesen mit neuen Eigenschaften, die ganz verschieden sind von denen, die diese Körper vor ihrer Verbindung besaßen«3.
In der deutschen Übersetzung des Buches von Bergman (Frankfurt am Main, Tabor Verlag, 1782–1790) wird attraction élective mit Wahlverwandtschaft wiedergegeben, was dem Französischen affinité élective entspricht.
Von dieser deutschen Version hat Goethe den Titel seines Romans Die Wahlverwandtschaften (1809) wahrscheinlich übernommen. Dort ist die Rede von einer wissenschaftlichen Untersuchung über chemische Vorgänge, die eine der handelnden Personen »etwa vor zehn Jahren« studiert hat. Mehrere Passagen widmen sich der Beschreibung des chemischen Vorgangs und wirken wie unmittelbare Auszüge aus dem Werk des schwedischen Gelehrten – vor allem die Untersuchung der Reaktion zwischen AB und CD, die sich neu verbinden zu AD und CB. Goethes Übertragung des chemischen Begriffs in den gesellschaftlichen Bereich der Spiritualität und der Gefühle war um so gewagter, als der Ausdruck seitens mehrerer Alchimisten (wie Boerhaave) mit sozialen und erotischen Vorstellungen bereits befrachtet war. Für Goethe liegt dann Wahlverwandtschaft vor, wenn zwei Wesen oder Elemente »einander suchen, sich anziehen, ergreifen … und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten.«4
Die Ähnlichkeit mit der Formulierung von Boerhaave (zwei Elemente die »sich suchen, vereinigen und finden«) ist verblüffend und wir können nicht ausschließen, daß Goethe auch das Werk des niederländischen Alchimisten kannte und daraus Anregungen bezog.
Seit Goethes Roman hat der Begriff sich im deutschen Sprachraum eingebürgert, er bezeichnet einen besonderen Typ von Seelenverwandtschaft. In Deutschland wird er auch seine dritte Metamorphose erfahren: Max Weber, dieser große Alchimist der Sozialwissenschaften, formt ihn um zu einem Konzept der Soziologie. Vom überlieferten Bedeutungszusammenhang übernimmt er bestimmte Konnotationen wie die der gegenseitigen Wahl, Anziehung und Verbindung, aber die Dimension des Neuen scheint zu verschwinden. Das Konzept der Wahlverwandtschaft – desgleichen das bedeutungsähnliche der Sinn-Affinitäten – taucht in Webers Schriften in drei präzisen Zusammenhängen auf.
Zuerst soll eine bestimmte Beziehung zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Religion charakterisiert werden. Zum Beispiel zwischen der Sendungs-Prophetie, bei welcher die Auserwählten sich als Werkzeug Gottes fühlen, und der Konzeption eines persönlichen, überweltlichen, zürnenden und mächtigen Gottes, besteht »eine tiefe Wahlverwandtschaft«.5
Des weiteren wird die Verbindung zwischen Klasseninteressen und verschiedenen Formen von Weltanschauung definiert. Nach Weber sind die Weltanschauungen autonom, aber die Entscheidung eines Individuums für diese oder jene hängt in hohem Maße von der Wahlverwandtschaft ab, die zwischen der Weltanschauung und seinen Klasseninteressen besteht.6
Schließlich wird die Beziehung zwischen religiösen Lehren und verschiedenen Formen der Wirtschaftsethik analysiert. In diesem Zusammenhang erscheint uns der Begriff am bedeutendsten. Als exemplarisch für seine Verwendung sei hier folgende