Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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Es handelt sich um eine äußerst fruchtbare Hypothese, die aber zu allgemein bleibt: Sie erlaubt nicht, im heterogenen Ensemble moderner Revolutionstheorien diejenigen auszumachen, die eine wirkliche Affinität zur jüdischen Tradition haben könnten. Für viele Autoren (Max Scheler, Karl Löwith, Nikolai Berdjajew usw.) – einige waren Webers Schüler – konstituiert das Denken von Marx den typischen Ausdruck des säkularisierten biblischen Messianismus. Aber es handelt sich um eine fragwürdige, ziemlich einseitige Interpretation der marxistischen Geschichtsphilosophie.
Wir glauben, daß Karl Mannheim sich auf sichererem Terrain bewegt, wenn er 1929 in Ideologie und Utopie den Gedanken äußert, der »radikale Anarchismus« sei das moderne Gesicht des chiliastischen Prinzips par excellence, die relativ reinste Ausformung utopischen, millenaristischen Bewußtseins in der Moderne. Mannheim unterscheidet nicht zwischen christlichem Millenarismus und jüdischem Messianismus, aber der jüdische Anarchist Gustav Landauer ist für ihn die ideale Verkörperung des chiliastischen Prinzips – ein Philosoph »von dämonischer Tiefe«.2 Wir kennen Landauer als einen der führenden Köpfe der (ersten) Münchner Räterepublik und verweisen in diesem Zusammenhang auf den deutschen Soziologen Paul Honigsheim (ehemaliges Mitglied des Weber-Kreises in Heidelberg und befreundet mit Lukács und Bloch), der berichtet, bestimmte Teilnehmer der Münchner und der Budapester Räterepublik seien vom Gefühl erfüllt gewesen, einem kollektiven Messias zuzugehören, der die Welt erlösen werde.3 Tatsächlich haben neben Gustav Landauer noch weitere jüdische Intellektuelle (Kurt Eisner, Eugen Leviné, Ernst Toller, Erich Mühsam usw.) eine führende Rolle in den beiden Bayerischen Räterepubliken gespielt, und Lukács und andere Mitglieder der jüdischen Intelligenz Budapests gehörten zu den Anführern der ungarischen Kommune.
Gibt es im jüdischen Messianismus also Aspekte, die mit einer revolutionären, vor allem anarchistischen Weltanschauung in Verbindung treten könnten?
In seinem Aufsatz Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum schreibt Gershom Scholem: »Es liegt in der Natur der messianischen Utopie ein anarchisches Element, die Auflösung alter Bindungen, die in dem neuen Zusammenhang der messianischen Freiheit ihren alten Sinn verlieren.«4
Diese Bemerkung ist aufschlußreich, aber unsere These lautet, daß die Analogie (oder »Korrespondenz«) zwischen messianischer und libertärer Utopie über dieses Element hinausgeht und sich in mehreren anderen entscheidenden »Momenten« der beiden kulturellen Konfigurationen zeigt. Wir untersuchen diese Korrespondenz und beziehen uns dabei auf das theoretische Paradigma – den Idealtyp des jüdischen Messianismus – von Gershom Scholem und auf einige Ausführungen Karl Mannheims zum radikalen Anarchismus.
1. Im jüdischen Messianismus finden wir zwei Tendenzen, die eng miteinander verbunden und dennoch gegensätzlich sind: Eine restaurative Kraft, die auf die Wiederherstellung eines vergangenen Idealzustands, eines Goldenen Zeitalters und einer verlorenen paradiesischen Harmonie gerichtet ist, und eine utopische Kraft, die eine völlig neue Zukunft und einen Stand der Dinge erstrebt, der noch nie da war. Die Proportion zwischen diesen beiden Kräften ist variabel, aber die messianische Idee kristallisiert sich nur aus ihrer Verbindung heraus. Sie sind unauflöslich ineinander verschlungen und stehen in einem dialektischen Verhältnis, das Scholem folgendermaßen beschreibt:
»Auch das Restaurative hat utopische Momente und in der Utopie werden restaurative Momente wirksam … Das ganz Neue hat Elemente des ganz Alten, aber auch dieses Alte selber ist gar nicht das realiter Vergangene, sondern ein vom Traum Verklärtes und Verwandeltes, auf das der Strahl der Utopie gefallen ist.«5
Sigmund Mowinckel, ein anderer großer Historiker des jüdischen Messianismus, meint denselben Sachverhalt, wenn er schreibt, in der jüdischen Tradition sei »die Eschatologie eine neue Interpretation der Mythologie der Ursprungszeit«.6
Dieser Dualismus der messianischen Idee findet seinen Ausdruck im hebräischen Begriff Tikkun. Für die Kabbalisten, vor allem für Isaak Luria und die Schule von Safed, bedeutet Tikkun die Wiederherstellung der großen Harmonie, die durch den Bruch der Gefäße (shvirat hakelim) und später durch Adams Sündenfall zerstört worden ist. Nach Gershom Scholem ist Tikkun der »Weg zum Ende aller Dinge« und zugleich der »Weg zum Anfang«. Er beinhaltet die »Restitution des idealen Zustandes«, die »Wiederherstellung des ursprünglichen Ganzen«. Das Erscheinen des Messias schließt diesen Prozeß der Wiederherstellung ab und bringt Erlösung als »Rückkehr aller Dinge zu ihrem ursprünglichen Kontakt mit Gott«. Die »Welt des Tikkun« (olam hatikkun) ist die utopische Welt der messianischen Reform, wo der Makel an allen Dingen ausgelöscht und das Böse vertrieben sein wird.7
Nun finden wir aber dieselbe Verknüpfung von Restauration und Utopie auch bei den libertären Denkern – Mannheim weist ausdrücklich darauf hin.8 Bei Bakunin, Sorel, Proudhon und Landauer geht die revolutionäre Utopie immer mit der Sehnsucht nach den Lebensformen einer vorkapitalistischen Vergangenheit einher, nach den Arbeitszusammenhängen der Bauern und Handwerkerzünfte; bei Landauer gibt es eine regelrechte Verklärung des Mittelalters …
Es läßt sich nicht leugnen, daß fast alle bedeutenden anarchistischen Philosophen im tiefsten Herzen eine Sehnsucht nach der Vergangenheit in sich tragen.
Weitere Übereinstimmungen ließen sich aufzeigen. Ein zeitgenössischer Kritiker, der antimilitaristische Schriftsteller Georges Darien, beklagt sich 1904 in einem Artikel über den »religiösen Charakter des Anarchismus«, dessen Lehre er folgendermaßen charakterisiert:
a) Es war einmal ein Goldenes Zeitalter. Es ist verschwunden, als die Autorität entstand.
b) Zu diesem Goldenen Zeitalter wollen wir zurück; deshalb ist eine Revolution wünschenswert.
c) Ist die Revolution erst einmal durchgeführt, wird das Leben auf diesem Planeten für eine Weile unterbrochen sein.
d) Dann kommt das Goldene Zeitalter wieder.9
Natürlich handelt es sich um eine Karikatur, aber sie zeigt eine Dimension auf, die im Prophetentum der Anarchisten wirklich vorhanden ist. Erinnern wir uns auch an die Aussage Max Webers in Wirtschaft und Gesellschaft, der Anarchosyndikalismus sei die einzige Spielart des Sozialismus in Westeuropa, der von sich behaupten könne, einem religiösen Glauben wirklich ebenbürtig zu sein.10
Tatsächlich finden wir eine romantische, nostalgische Dimension bei allen revolutionären und antikapitalistischen Denkern. Auch die Marxisten sind nicht frei davon – obwohl gemeinhin das Gegenteil behauptet wird. Allerdings wird dieser romantische Aspekt bei Marx und seinen Schülern durch die Bewunderung relativiert, die sie der Industrialisierung und dem wirtschaftlichen Wachstum entgegenbringen. Bei den Anarchisten jedoch, die jeden technologischen Fortschritt ablehnen, manifestiert er sich mit einer Intensität, die spezifisch und einzigartig ist. Der Anarchismus ist zweifellos (mit dem russischen Narodnikitum) die revolutionäre Bewegung der Neuzeit, deren Utopie das mächtigste romantische und restitutionistische Potential enthält. Das Werk Gustav Landauers darf in dieser Hinsicht als unübertrefflicher Ausdruck des romantischen Geistes der libertären Utopie gelten.
Dieser Gesichtspunkt ist vielleicht der signifikanteste, der grundsätzlichste, der entscheidendste, was die Analogie zwischen jüdischem Messianismus und Anarchismus betrifft; er allein schon dürfte genügen, um zwischen beiden eine ganz besondere geistige Beziehung zu vermuten. Wir werden darauf zurückkommen.
2. Nach Gershom Scholem wird die Erlösung im Messianismus des Judentums im Gegensatz zum christlichen Messianismus als Ereignis betrachtet, das sich notwendigerweise auf dem Schauplatz der Geschichte ereignen muß; »öffentlich« sozusagen und in der Welt des Sichtbaren. Sie ist kein geistiger Prozeß in der Seele des Individuums, der eine im wesentlichen innere Veränderung bewirkt. Wie ist dieses »sichtbare« Ereignis also zu verstehen? Die religiöse Tradition des Judentums begreift