Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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13Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 372.
14Gershom Scholem: »Considérations sur la théologie juive«. In: Fidélité et Utopie. Essais sur le judaisme contemporain, Paris 1978, S. 254, 256. Vgl. auch die englische Übersetzung aus dem Hebräischen On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays, New York 1976.
15Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 190. Zum messianischen, utopischen und apokalyptischen Charakter des Anarchismus äußert sich ebenfalls Eric Hobsbawm in seiner Untersuchung der anarchosyndikalistischen Agrarbewegung in Spanien: »Das beeindruckendste Beispiel einer modernen millenaristischen oder quasi millenaristischen Massenbewegung.« (Eric Hobsbawm: Primitive Rebels, New York 1965, S. 90)
16Vgl. Sigmund Mowinckel: op. cit., S. 261–263, 265.
17Die hebräischen Zitate sind der Ausgabe des Alten Testaments durch die British and Foreign Bible Society, London 1963, entnommen. Die deutschen Zitate stammen aus Die Heilige Schrift, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers (Hg: C. I. Scofield), New York 1967.
18Zu anderen biblischen und nachbiblischen Quellen zu dieser Thematik vgl. Sigmund Mowinckel: op. cit., S. 154.
19Ebd., S. 172; vgl. auch S. 140–148.
20Jakob Taubes: Studien zu Geschichte und System der abendländischen Eschatologie, Bern 1947, S. 18. (Erschien als Dissertation vollständig unter dem Titel: Abendländische Eschatologie.)
21Gershom Scholem: Judaica I, S. 47–50 und Judaica II, Frankfurt am Main 1970, S. 161. An anderer Stelle spricht Scholem vom »messianisch-anarchistischen« Judentum der Sabbatianer. (Judaica III, Frankfurt am Main 1973, S. 196).
22Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 190.
23Vgl. zu diesem Thema Michael Löwy, Robert Sayre: »Figures du romantisme anticapitaliste«. In: L’Homme et la Société, Nr. 69–70; 73–74, Paris, Publications de la Sorbonne, 1984.
KAPITEL 3
Parias, Rebellen und Romantiker:
Versuch einer soziologischen Analyse der jüdischen
Intelligenz in Mitteleuropa
Wie wir bereits gesehen haben, bezeichnet der Begriff Mitteleuropa einen Bereich, der durch die deutsche Sprache eine Einheit bildet: Deutschland und das Kaiserreich Österreich-Ungarn. Die Situation der jüdischen Bevölkerungsschicht dieser Region und vor allem die der jüdischen Intelligenz kann nicht verstanden werden, wenn man die historischen Veränderungen nicht in Rechnung stellt, die Mitteleuropa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Die Veränderung der Lebensform im religiösen und kulturellen Bereich muß mit Veränderungen der ökonomischen und der sozialen Struktur in Beziehung gesetzt werden. Den Begriff der »Determinierung« durch wirtschaftliche Verhältnisse wollen wir vermeiden; geeigneter ist Karl Mannheims Formulierung der Seinsgebundenheit. Er meint damit einen Zusammenhang zwischen Kultur und sozio-ökonomischer Realität, vielleicht sogar eine Abhängigkeit der ersten von der zweiten.
Mit anderen Worten: wenn wir die geistigen Inhalte der deutsch-jüdischen Kultur dieser Epoche analysieren wollen, müssen wir zuvor eine soziale Gegebenheit konstatieren, die wesentlich ist: Die rasante Entwicklung des Kapitalismus und die beschleunigte Industrialisierung in Deutschland und Österreich-Ungarn in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1870 und 1914 wandelt sich Deutschland von einem halb feudalistischen und rückständigen Land zu einem der wichtigsten Industriestaaten der Welt. Ein Beispiel dürfte genügen, um diese Veränderung zu illustrieren: Im Bereich der Stahlproduktion, einer der typischen modernen Industriezweige, produziert Deutschland, das 1860 noch hinter Frankreich und weit hinter England lag, im Jahre 1910 mehr als beide Länder zusammen! Bank- und Industriekapital verschmelzen miteinander. Mächtige Kartelle entstehen innerhalb der Textil- und Kohleindustrie, in der Eisen und Stahl verarbeitenden Industrie, der chemischen Industrie und der Elektrotechnik.1 Ein vergleichbares Phänomen, sei es auch geringeren Ausmaßes, finden wir vor in Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die rasende Geschwindigkeit, die Brutalität, die Intensität dieser alles niederwälzenden Industrialisierung hat die mitteleuropäischen Gesellschaften erschüttert. Sie hat zur Bildung neuer politischer Systeme beigetragen, zu einer Veränderung der gesamten Werte-Hierarchie. Denken wir nur an den Aufschwung der Bourgeoisie und an die Formierung eines klassenbewußten Proletariats !
Angesichts dieses unaufhaltsamen Siegeszugs des Kapitalismus, der alles erfassenden Entwicklung im Bereich von Wissenschaft, Technik und industrieller Produktion, wo nur noch die Ware zählt und alles im Wert von Waren gemessen wird, entsteht innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und vor allem innerhalb der traditionellen Intelligenz eine kulturelle Reaktion, die bald verzweifelte, tragische Züge trägt, bald resignativ wirkt. Wir bezeichnen sie als romantischen Antikapitalismus.
Der romantische Antikapitalismus darf mit Romantik als Stilrichtung von Kunst und Literatur nicht verwechselt werden. Er ist eine Weltanschauung, die eine mehr oder weniger radikale Kritik an der Zivilisation der bürgerlichen Industriegesellschaft formuliert im Namen der sozialen, kulturellen, ethischen oder religiösen Werten einer präkapitalistischen Vergangenheit propagiert.2 Diese Weltanschauung bestimmt um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa und vor allem in Deutschland das Lebensgefühl von Kulturschaffenden und Universitätsangehörigen. Die akademischen Würdenträger gehörten im vergangenen Jahrhundert zur einflußreichsten und privilegiertesten sozialen Gruppe.
Die fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft droht sie in die Situation ohnmächtiger Außenseiter abzudrängen. Sie reagieren, indem sie ihren Abscheu vor einer Gesellschaft bekunden, die ihnen seelenlos erscheint, standardisiert, oberflächlich und materialistisch.3 Eines der wesentlichen Themen ihrer Kritik, die wie eine Obsession bei Schriftstellern, Dichtern, Philosophen und Historikern immer wiederkehrt, ist das der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation. Während der erste Begriff ein geistiges Klima bezeichnet, das von ethischen, religiösen und ästhetischen Werten geprägt ist, steht der zweite Begriff für eine materialistische und vulgäre Welt, in der der ökonomische Fortschritt regiert. Wenn der Kapitalismus nach der unerbittlich scharfsichtigen Formulierung Max Webers die Entzauberung der Welt bedeutet, so muß der romantische Antikapitalismus vor allem als nostalgischer und verzweifelter Versuch gewertet werden, die Welt aufs neue zu verzaubern. Zu diesem Versuch gehörte im wesentlichen die Rückkehr zur Religion, die Reaktivierung der unterschiedlichsten Formen religiöser Spiritualität.
Von der Weltanschauung des romantischen Antikapitalismus zeugen eine erstaunliche Anzahl künstlerischer Werke dieser