Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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Welche Folgen hatten die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in Mitteleuropa für die jüdische Bevölkerungsschicht? Der Aufschwung des Kapitalismus begünstigt die jüdische Bourgeoisie. Die jüdischen Mitbürger verlassen ihre Ghettos und Dörfer und siedeln sich in den Städten an. Während 1867 noch 70 % aller preußischen Juden in kleinen Dörfern lebten, fällt dieser Prozentsatz 1927 auf 15 %.4 Die gleiche Entwicklung beobachten wir im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Hier konzentriert sich die jüdische Bevölkerung in Budapest, Prag und vor allem in Wien. Als Beispiel könnte ich meine eigene Familie anführen: sowohl meine Großeltern väterlicherseits, die aus der Tschechoslowakei stammten, als auch die von seiten der Mutter (sie kamen aus Ungarn) haben ihre Dörfer gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlassen, um sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs niederzulassen. In den Städten etablieren sich ein jüdisches Großbürgertum und eine jüdische Mittelschicht, die ihren Einfluß im Bereich von Handel, Industrie, Bankwesen und Finanzen ständig vergrößern. Im Zuge ihres stetig wachsenden Reichtums und nach Aufhebung der alten bürgerlichen und politischen Restriktionen (in Deutschland 1869–1871) kennt diese jüdische Mittelschicht nur einen Ehrgeiz: die Assimilation, die Integration ins deutsche Volk. Ein Brief, den der Industrielle und spätere Minister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, 1916 geschrieben hat, spiegelt diese Einstellung in charakteristischer Weise wieder: »Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts … Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschem Geist genährt … Mein Vater und ich haben keinen Gedanken gehabt, der nicht für Deutschland und deutsch war …«5
Natürlich stellt dieses Beispiel fast einen Grenzfall dar, aber selbst für diejenigen, die sich weiterhin als Juden definierten, war die deutsche Kultur die einzig wertvolle. Vom Judentum blieben nur einige rituelle Überbleibsel wie der Besuch in der Synagoge zum Jom-Kippur-Fest und der alttestamentliche Monotheismus. Als ideale, beispielhafte Weisheitslehrer galten nicht mehr Moses oder Salomon, sondern Lessing und Goethe, Schiller und Kant. Vor allem Schiller wurde regelrecht verehrt. Seine Gesammelten Werke standen in der Bibliothek jedes deutschen oder österreichischen Juden, der etwas auf sich hielt. (Als meine Eltern Wien 1938 verlassen mußten, haben sie ihre Schiller-Ausgabe mitgenommen …) Die konsequentesten Verfechter der Assimilation waren in Deutschland die Mitglieder des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Zu diesem sozialen Milieu gehörte auch die Familie Gershom Scholems. Er schreibt dazu: »Die Bildung und Lektüre lagen ausschließlich im deutschen Kulturbereich, und ein Ausbruch aus ihm, besonders gar ins Jüdische zurück, begegnete in den meisten Fällen starken Widerständen. Die Assimilation ging sehr weit. Es wurde immer wieder betont, wenn auch in verschiedenen Nuancen, daß man dem deutschen Volk zugehöre und darin nichts weiter als eine Konfession bilde, wie andere auch. Das war um so paradoxer, als ja gerade das religiöse Moment, das angeblich den einzigen Unterscheidungspunkt bildete, in den meisten Fällen gar nicht vorhanden war und auf die Lebensführung ohne Einfluß blieb.«6
Dennoch wäre es falsch, in diesem Hunger nach Akkulturation nur simple Karrieresucht zu sehen. Auch ehrliche und echte Überzeugtheit spielte eine Rolle. Sogar ein zutiefst religiöser Jude wie Franz Rosenzweig konnte 1923, kurz nach der Veröffentlichung seines großen theologischen Werkes Der Stern der Erlösung noch schreiben: »Ich glaube, die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht … Und der Stern wird wohl einmal und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt, angesehen werden.«7
Bis zu einem gewissen Punkt war diese Assimilation möglich, aber es gab eine gesellschaftliche Schranke, die nicht zu überschreiten war. Moritz Goldstein bringt das 1912 in einem Text (»Deutsch-Jüdischer Parnass«) zum Ausdruck, der an die Klage eines enttäuschten Liebenden gemahnt: »Machen wir uns doch nichts vor: wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die andern fühlen uns ganz undeutsch … Sind wir nicht aufgewachsen mit dem deutschen Märchen? … Lebt nicht auch in uns der deutsche Wald, dürfen nicht auch wir seine Elfen und Gnomen erblicken …?«8
Die Assimilation hatte auch da ihre Grenzen, wo die jüdischen Mitbürger von einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Tätigkeiten ausgeschlossen blieben. Der Zugang zur Verwaltung, zur Armee, zum Gerichtswesen und zum öffentlichen Schul- und Erziehungswesen blieb ihnen verwehrt. Seit Beginn des Jahres 1890 ließ sich sogar ein wachsender Antisemitismus beobachten; er hatte seine Ideologen, seine Aktivisten, seine Presse. Aus all diesen Gründen kann von einer wirklichen Integration der jüdischen Bevölkerung in Mitteleuropa nicht die Rede sein. Auf sie treffen einige der wesentlichen Bestimmungen Max Webers in seiner klassisch gewordenen Definition des Paria-Volkes zu: »Eine durch (ursprünglich) magische, tabuistische und mit rituellen Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung nach außen einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit weitgehender ökonomischer Sondergebahrung andererseits, zu einer erblichen Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband.«9 Natürlich läßt sich die damalige Situation der Juden mit der bestimmter Kasten in Indien oder der der jüdischen Ghettobewohner im Mittelalter nicht vergleichen. Wirtschaftliche Sicherheit und eine zumindest formelle Gleichheit der Bürgerrechte waren seit der Emanzipation gewährleistet. Aber auf gesellschaftlicher Ebene hatte der Jude nicht aufgehört, Paria zu sein. Und er legte sich, um mit Hannah Arendt zu sprechen, Rechenschaft über die Tatsache ab, »how treacherous the promise of equality (is) which assimilation has held out.«10
Als Königsweg zum Erwerb gesellschaftlicher Würden und Ehren galt in Deutschland wie im übrigen Mitteleuropa die Universitätskarriere. Wie der Neukantianer Friedrich Paulsen schreibt, bildeten die Bürger mit universitärer Ausbildung in Deutschland eine Art von intellektueller Aristokratie. Das Nichtvorhandensein eines akademischen Titels hingegen stellte einen Makel dar, den weder Reichtum noch hohe Geburt völlig ausgleichen konnten.11 Das innere Gesetz der kulturellen Assimilation und das Bedürfnis, auf der sozialen Stufenleiter nach oben zu kommen, treiben das jüdische Bürgertum vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu, seine Söhne zur Universität zu schicken. »Wie die meisten deutschen Kaufleute, wollten auch die jüdischen höher hinaus. Die Auszeichnungen durch Ehrenämter, Titel und Orden, die ihnen trotz des Antisemitismus nicht ganz vorenthalten blieben, genügten nicht; ihre Söhne und Schwiegersöhne sollten mehr gelten als sie selber. Die Laufbahn des Offiziers und höheren Beamten, das Ziel des christlichen jungen Mannes, war dem jüdischen verschlossen, wenn er es sich nicht durch die Taufe erschloß, das akademische Studium offen.«12
So kommt man seit 1895 zu einem Anteil von jüdischen Studenten an den deutschen Universitäten, der 10 % beträgt, das sind zehnmal soviel, wie der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung ausmacht (1,05 %).13 Dieser massive Bildungsanstieg der jüdischen Jugend aus bürgerlichem Milieu führt um die Jahrhundertwende schnell zur Formation einer neuen sozialen Kategorie: der jüdischen Intelligenz.
Natürlich findet man jüdische Intellektuelle deutscher Muttersprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Moses Mendelssohn), aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist das Phänomen allgemein zu beobachten und wird zu einem neuen gesellschaftlichen Faktum. Diese