Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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Zwischen Gegenwart und Zukunft, der aktuellen Verworfenheit und der Erlösung, tut sich ein Abgrund auf; in vielen Texten des Talmud erscheint darüber hinaus der Gedanke, der Messias werde zu einer Zeit kommen, in der Sittenverderbnis und Schuldhaftigkeit am größten sind. Dieser Abgrund kann durch keine »Entwicklung«, durch keinen »Fortschritt« überwunden werden – die revolutionäre Katastrophe allein, die alle entwurzeln wird und die bestehende Ordnung der Dinge völlig zerstört, öffnet der messianischen Erlösung den Weg. Im säkularisierten Messianismus des liberalen Judentums – z. B. bei dem Neukantianer Hermann Cohen – finden wir im 19. Jahrhundert den Glauben an den stetigen Fortschritt, die allmähliche Vervollkommnung der Menschheit. Dieser Gedanke hat mit der Überlieferung der Propheten und Aggadisten nichts zu tun, die das Erscheinen des Messias immer mit allgemeiner Erschütterung und revolutionärem Sturm gleichsetzen. Wie Scholem ganz richtig betont, kennen die Bibel und die Apokalyptiker »keinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin. Die Erlösung … ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wandelnd, weil von einem Licht betroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt.«12
Im selben Sinne beobachtete schon Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft, wenn er schreibt, das jüdische Volk habe immer in stummer, glühender Erwartung des großen Tages gelebt, an dem »durch eine Tat, die über Nacht kommt, deren Zeitpunkt niemand wissen … kann, Gott die Rangordnung der Erde umkehren wird in ein messianisches Reich«.13
Auf die Übereinstimmung mit den Revolutionstheorien der Neuzeit macht Scholem selbst aufmerksam: »Der Messianismus unserer Zeit beweist seine Macht im Gewand der revolutionären Apokalypse, und nicht mehr als rationalistische Utopie des ewigen Fortschritts (falls diese Bezeichnung angebracht ist), die in den Zeiten der Aufklärung ein Ersatz für die Erlösung war.« Als Erben der jüdischen Tradition bezeichnet er Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse – die bedeutendsten Ideologen des revolutionären Messianismus in unserem Jahrhundert.14
Die Gültigkeit dieser Bewertung soll nicht in Abrede gestellt werden. Allerdings haben wir den Eindruck, daß die Erbschaft des jüdischen Messianismus speziell von den libertären Philosophen – zu denen auch Benjamin und der junge Bloch gehören – angetreten wurde. Tatsächlich ist der revolutionäre, katastrophische Aspekt der Befreiung im Anarchismus am deutlichsten ausgeprägt: »Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Lust«, schrieb Bakunin. Und Mannheim zeigt am Beispiel Gustav Landauers auf, daß der Widerspruch zwischen jeder bestehenden Ordnung (»Topie«) und der noch zu schaffenden menschlichen Gemeinschaft (»Utopie«) vom Anarchimus am radikalsten erfaßt wird. Wir haben es hier mit einer qualitativen Differenzierung von Zeit zu tun, in der sinnerfüllte und sinnentleerte Epochen scharf voneinander abgegrenzt sind. Jede Möglichkeit von Fortschritt oder Evolution wird bestritten, und die Revolution erfolgt als Eingriff in die Welt.15
3. In der jüdischen und insbesondere der biblischen Tradition ist die Veränderung bringende et qets (Endzeit) folgendermaßen definiert: als allgemein, universell und radikal. Sie bedeutet nicht die Verbesserung der bis zu diesem Zeitpunkt existierenden, sondern die Erschaffung einer völlig anderen Welt.16 Das Erscheinen des Messias am Ende der Tage, be’akharit hayamim, begründet ein Zeitalter der Harmonie, oder besser gesagt, stellt es wieder her. Harmonie wird herrschen zwischen Gott und den Menschen, zwischen Mensch und Natur und den Menschen untereinander. Es sind die berühmten Visionen aus Jesaja 11:8, wo der Säugling »vor dem Schlupfloch der Natter« spielt, oder Jesaja 2:4, die Verkündigung des ewigen Friedens: loyissagoielgoiherev weloyilmedu od milhamah – »Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.«17
Die Korrespondenz mit den revolutionären Utopien der Neuzeit erstreckt sich hier ebensowohl auf den absoluten und radikalen Charakter der Veränderung, wie auf den Inhalt dieser neuen bzw. wieder hergestellten Welt selbst. Tatsächlich aber weist von allen revolutionären Bewegungen der Neuzeit am entschiedensten der Anarchismus den Gedanken zurück, die bestehende Ordnung der Dinge ließe sich verbessern.
4. Ein wichtiger Aspekt des allgemeinen eschatologischen Umsturzes ist die Vernichtung der weltlichen Macht. Bei Jesaja lesen wir: »Seht, der Tag des Herrn kommt, voll Grausamkeit, Grimm und glühendem Zorn«(Jesaja 13:9); »dem Hochmut der Stolzen mache ich ein Ende und werfe die hochmütigen Tyrannen zu Boden«(Jesaja 13:11). »Der Herr hat die Knüppel der Frevler zerbrochen, den Stock der Tyrannen, der in seinem Zorn die Völker erschlug, sie schlug ohne Ende, der die Völker in seiner Wut zertrat und sie verfolgte ohne jedes Erbarmen.« (Jesaja 14:5-6).18
Andere alttestamentliche und apokalyptische Texte gehen noch weiter. Sie beschwören die Aufhebung jeder Macht und Autorität, die von Menschen getragen wird, zugunsten einer Theokratie im eigentlichen Sinne des Wortes. Gott selbst, ohne Vermittler und Stellvertreter, soll die Herrschaft übernehmen. Mowinckel schreibt, Jahwe selbst sei der Herrscher des künftigen messianischen Königreichs, melekh yisrael wegoalo, König Israels und sein Erlöser (Jesaja 44:6).19
Und Jakob Taubes: »Die Theokratie ist auf dem anarchischen Seelengrund Israels errichtet. In der Theokratie äußert sich der Trieb des Menschen, von aller menschlich irdischen Bindung frei zu sein und im Bund mit Gott zu stehen.«20
Natürlich sind wir hier weit entfernt vom modernen Anarchismus, in dessen Devise »Weder Gott noch Herr« sich die Verweigerung jeder Autorität manifestiert, sei sie nun weltlich oder göttlich. Aber diese Ablehnung jeder von Menschen getragenen »leiblichen« Macht stellt eine bedeutungsträchtige Analogie und Korrespondenz dar und setzt uns in die Lage, jene eigenartige Denkfigur bestimmter zeitgenössischer, jüdischer Intellektueller wie Benjamin und Scholem besser zu begreifen: den theokratischen Anarchismus.
5. Was bleibt, ist der Aspekt des jüdischen Messianismus, den Scholem als den eigentlich »anarchischen« bezeichnet hat. In mehreren Textpassagen des Talmud und der Kabbala finden wir die Idee, die Ankunft des Messias bedeute die Aufhebung sämtlicher Einschränkungen und Verbote, welche die Thora den Juden bis zu diesem Zeitpunkt auferlegte. Im messianischen Zeitalter verliert die überlieferte Thora ihre Gültigkeit. Sie wird abgelöst von einem neuen Gesetz, der »Thora der Erlösung«, die keine Verbote mehr kennt. In einer neuen, paradiesischen Welt ist die Macht des Bösen gebrochen und der Baum des Lebens wird zum beherrschenden Symbol. Damit verlieren die Beschränkungen ihre Bedeutung, die den Juden in einer unerlösten, vom Baum der Erkenntnis regierten Welt auferlegt waren. Dieses »anarchische« Element weist Scholem an einer bestimmten Interpretation von Psalm 146:7 nach, die eine neue Lesart des hebräischen Urtextes voraussetzt. Anstelle der traditionellen Version »Gott löst die Gefangenen« (mattir asurim) müßte es heißen »Gott löst die Verbote auf« (mattir isurim).21
Es scheint gerechtfertigt, diese Aussage als »anarchisch« zu qualifizieren, denken wir nur an die berühmte Formulierung Bakunins, die Mannheim als signifikantes Beispiel für die chiliastische Haltung der radikalen Anarchisten zitiert: »Ich glaube nicht an Konstitutionen und an Gesetze; die beste Konstitution würde mich nicht befriedigen können. Wir brauchen etwas anderes; Sturm und Leben und eine neue gesetzlose und darum freie Welt.«22
Diese fünf Aspekte gehören zusammen. Ihre Untersuchung zeigte Übereinstimmungen zwischen zwei kulturellen Phänomenen auf, die ganz verschiedenen Bereichen angehören. Diese Übereinstimmungen könnte man als strukturelle Homologie und spirituelle Isomorphie bezeichnen, da sie sowohl die Sprachstruktur als auch den geistigen Inhalt von jüdischem Messianismus und revolutionärer, sprich libertärer Utopie der Neuzeit betreffen.
Unter »libertär« verstehen wir hier nicht nur anarchistische bzw. anarchosyndikalistische Lehren im eigentlichen Sinn, sondern auch progressive Tendenzen im Sozialismus – einschließlich des marxistischen