Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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Unser Begriff kann andere Paradigmen nicht ersetzen, soweit sie der Analyse, der Erklärung und dem Verständnis dienlich sind. Aber er öffnet uns eine neue, bisher kaum bekannte Sicht auf Fragestellungen der Kultursoziologie.
Übrigens ist es erstaunlich, daß seit Max Weber so wenig unternommen wurde, ihn zu überprüfen und im Rahmen konkreter Forschungsaufgaben anzuwenden.
Selbstverständlich findet Wahlverwandtschaft nicht im leeren Raum oder im azurblauen Himmel der reinen Geistigkeit statt: Sie wird begünstigt oder behindert von geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheiten. Mögen Analogie und Verwandtschaft als solche auch nur vom geistigen Gehalt der signifikanten Strukturen abhängig sein, von denen hier die Rede ist, ihr Zueinander-in-Beziehung-treten und ihre aktive Interaktion finden unter konkreten gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Umständen statt. In diesem Sinne ist eine Untersuchung, die vom Begriff der Wahlverwandtschaft ausgeht, völlig zu vereinbaren mit dem Bewußtsein, daß ökonomische und soziale Bedingungen determinierend wirken. Dies gilt auch – im Gegensatz zu dem, was im allgemeinen darüber verbreitet wird – für Webers klassische Analyse der Beziehung zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Mit Ausnahme einiger polemischer »Ausrutscher« zielt seine Beweisführung weniger darauf ab, eine kausale Beziehung zwischen zwei Geisteshaltungen aufzuzeigen, als vielmehr Rechenschaft abzulegen von der Wahlverwandtschaft zwischen einer religiösen Lehre und einem ökonomischen Ethos. Und noch ein Hinweis am Rande: Marx selbst hat in einem Abschnitt der Grundrisse, einer Arbeit, die Weber nicht gekannt haben kann, denn sie wurde erst 1939 veröffentlicht, auf den Zusammenhang zwischen englischem oder holländischem Protestantismus und der Akkumulation von Geldkapital verwiesen.13
1Vgl. Joannis Conradi Barchusen: Pyrosophia, Lugduni Batavorum (Leiden), Impensis Cornelii Bautestein, 1698, Buch I, Kap. 3.
2Herman Boerhaave: Elementa chemiae, Lugduni Batavorum (Leiden), Apud Isaacum Severinum, 1732, Part II: »De Menstruis«. Siehe außerdem La Grande Encyclopédie, Art. »Affinité, I. Chimie«, und De Morveau: (Art.) La Chymie, Encyclopédie méthodique, Band 1, Paris 1786, S. 535.
3De Morveau: La Chymie, S. 570, und Torbern Olof Bergman: Traité des affinités chimiques ou attractions électives, Paris 1788, S. 5.
4Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, DTV Gesamtausgabe Band 19, München 1963, S. 29, 34.
5Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1922, S. 257.
6Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 153.
7Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1920, S. 83.
8Max Weber: The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, London 1957, S. 91–92.
9Karl Mannheim: Das konservative Denken (1927), Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 458. Der Begriff wird auch von Troeltsch verwendet: Vgl. Jean Séguy, Christianisme et Société. Introduction à la sociologie de Ernst Troeltsch, Paris 1980, S. 247–251. Werner Stark, ein Soziologe aus dem Umfeld der Schule von Weber, hat den Begriff untersucht, aber nur hinsichtlich des zweiten Typus der Wahlverwandtschaft, von dem Max Weber sprach (nämlich dem zwischen Weltanschauungen und sozialen Klassen). Vgl. Werner Stark: Die Wissenssoziologie, Stuttgart 1960, S. 215–248.
10Siehe hierzu die Untersuchung von Alfred von Martin: Kultursoziologie des Mittelalters. In: Handwörterbuch der Soziologie (Hg: Alfred Vierkandt), Stuttgart 1959, S. 370–390.
11Vgl. Charles Baudelaire: Oeuvres complètes, Paris, Seuil, 1968, S. 471, 350.
12Siehe Danièle Hervieu Léger: Apocalyptique écologique et »retour« de la religion, Archives de Sciences Sociales des Religions, Nr. 53/1, Januar–März 1982, S. 66.
13Siehe hierzu unsere Untersuchung Marx et Weber: notes sur un dialogue implicite, Dialectique et révolution. Essais de sociologie et d’histoire du marxisme, Paris 1973.
KAPITEL 2
Jüdischer Messianismus und libertäre Utopie – Von den »Korrespondenzen« zur »attractio electiva«
Was kann der jüdische Messianismus mit den libertären Utopien des 20. Jahrhunderts gemeinsam haben? Eine religiöse Tradition, politisch indifferent, Übernatürlichem und Sakralem zugewandt, und eine sozialrevolutionäre, im allgemeinen atheistische und materialistische Gedankenwelt? Es scheint eindeutig, daß die messianische, traditionelle und rituelle Religiosität der Rabbiner und Talmudisten mit den subversiven anarchistischen Ideen eines Bakunin oder Kropotkin nichts zu tun hat. Dies um so mehr, als der kulturelle Ethnozentrismus der jüdischen Religion mit dem militanten Universalismus der revolutionären Utopie nicht zu vereinbaren ist. Dennoch hat die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend aktive Rolle jüdischer Intellektueller bei der Produktion subversiver Ideen zum Versuch ermuntert, die Utopien des Sozialismus in ihrem Ursprung auf jüdische Religiosität zurückzuführen.
Max Weber gehört wahrscheinlich zu den ersten Religionssoziologen, die den Gedanken formuliert haben, das antike Judentum sei potentiell revolutionär. Für das Alte Testament stellt sich die Welt weder als ewig noch unveränderlich, sondern als Produkt der Geschichte dar, dem es bestimmt ist, von einer göttlichen Ordnung abgelöst zu werden. Die