Erlösung und Utopie. Michael Löwy

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Erlösung und Utopie - Michael Löwy страница 10

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Erlösung und Utopie - Michael Löwy

Скачать книгу

Wenn wir diese Autoren und andere, weniger bekannte wie Hans Kohn, Rudolf Kayser, Eugen Leviné, Erich Unger usw. gemeinsam betrachten, so liegt das darin begründet, daß ihre Werke im Zusammenhang der Neuromantik stehen und als Dokumente der Wahlverwandtschaft von jüdischem Messianismus und libertärer Utopie zu lesen sind. Für einen Autor wie Georg Lukács war diese Orientierung eine Episode im intellektuellen Werdegang. Bei Walter Benjamin stellt sie den Mittelpunkt des Lebenswerkes dar. Natürlich stehen Messianismus und Anarchismus bei jedem Schriftsteller in einer anderen Proportion: bei Franz Rosenzweig zum Beispiel überwiegt die religiöse Komponente, bei Bloch der utopisch-revolutionäre Entwurf. Aber beide Aspekte findet man bei allen.

      Eine systematische Gesamtdarstellung von Messianismus und anarchistischer Utopie wird man bei keinem von ihnen finden. Aber die Wirkung beider Phänomene in ihren Werken ist wie ein mächtiger Strom, der bald unterirdisch, bald deutlich sichtbar fließt und in Themen zur Darstellung gelangt, die von Autor zu Autor, von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt verschieden sind.

      Manchmal lassen sich beide Dimensionen klar voneinander unterscheiden, dann wieder sind sie eng verbunden oder gehen ineinander über. Explizite Formulierungen sind vertreten oder indirekte, und auch »Leerstellen« sollte man zu interpretieren wissen.

      Messianismus und Anarchismus können im Werk eines Autors dominieren, oder ein rasches, seltenes »Aufblitzen« deutet auf sie hin. Zwei verschiedene Gruppierungen von Autoren können wir unterscheiden. Bei der ersten herrscht die religiöse Orientierung vor, bei der zweiten geht es in stärkerem Maße um Fragestellungen der Politik:

      Zur Gruppierung religiös geprägter Juden mit anarchistischen Tendenzen gehören Franz Rosenzweig, Rudolf Kayser, Martin Buber, Gershom Scholem, Hans Kohn und viele andere. Letztere sind Zionisten, erstere eher feindselig, zumindest zurückhaltend, was den Zionismus betrifft. Obwohl sie die Assimilierung ablehnen und zum Judentum als Religion und Nationalkultur zurückgekehrt sind, formulieren sie politische und soziale, sprich utopisch-libertäre Anliegen in ihren Werken. Ihr Universalismus bewahrt sie davor, in engherzigem und chauvinistischem Nationalismus zu verfallen. So gehören Scholem und Buber in Palästina zu den Initiatoren von Brit Schalom und Ihud: Organisationen, die ein Zusammenleben von jüdischer und arabischer Bevölkerung befürwortet haben und die Errichtung eines nur den Juden vorbehaltenen Nationalstaates ablehnten. In gewisser Weise gehört auch Kafka in diese Gruppe, aber seine Einstellung zur jüdischen Religion ist problematischer und sein Verhältnis zur Assimilierung weniger negativ.

      Die zweite Gruppierung besteht aus assimilierten (atheistisch-religiösen), libertären Juden, d. h. aus Anarchisten, Anarcho-Bolschewiken und antiautoritären Marxisten: Gustav Landauer, Ernst Bloch, Erich Fromm, Ernst Toller, Georg Lukács usw. Im Gegensatz zu den Vorhergehenden haben sie sich mehr oder weniger von ihrer jüdischen Identität entfernt, doch eine gewisse Verbindung zum Judentum ist noch vorhanden und wird deutlich formuliert. Ihr religiöser Atheismus (der Begriff stammt von Lukács) trägt neben jüdischen auch christliche Züge, und mehrere von ihnen lassen den Anarchismus hinter sich und bekennen sich später zum Marxismus oder Bolschewismus.

      Abseits und am Scheideweg steht Walter Benjamin. Er gehört beiden Gruppen gleichzeitig an und verkörpert wie kein anderer die messianische, libertäre Kultur des deutschsprachigen Judentums.

      Diese Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Gruppierungen macht auch deutlich, daß die Wahlverwandtschaft zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie nicht frei von Spannungen ist, vielleicht sogar einen Widerspruch enthält. Wir meinen den nationalen und kulturellen jüdischen Partikularismus, der zum Messianismus gehört, und den universalistischen – humanistischen, internationalistischen – Charakter der emanzipatorischen Utopie. In der ersten Gruppierung relativiert die Prädominanz des jüdischen Partikularismus den revolutionären, universalistischen Charakter der Utopie, ohne ihn zum Verschwinden zu bringen.

      In der zweiten Gruppierung steht der Universalismus der Utopie im Vordergrund, und der Messianismus verliert seine jüdische Prägung, die jedoch nicht völlig ausgelöscht wird.

      Warum hat sich dieses politische und kulturelle Phänomen nur in Mitteleuropa entwickelt und in keinem anderen Teil des europäischen Judentums? Und warum ausgerechnet in diesem historischen Moment? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die besondere, widersprüchliche Situation der deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen in Mitteleuropa untersuchen. Dann werden wir auch verstehen, in welcher Weise der romantische Antikapitalismus von ihnen rezipiert wurde.

      1Max Weber: Das antike Judentum. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, Tübingen 1923, S. 6.

      2Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 1969, S. 195f, 210, 214.

      3Paul Honigsheim: »Soziologie der Mystik«. In: Max Scheler (Hg): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, Leipzig 1924, S. 343.

      4Gershom Scholem: »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, Judaica I, Frankfurt am Main 1963, S. 41f.

      5Ebd., S. 12f. Der utopische Aspekt des Messianismus erscheint bereits im Alten Testament, vgl. z. B. Jesaja 65:17: »Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch sie zu Herzen nehmen.« Zum messianischen Zeitalter als Wiederherstellung des verlorenen Paradieses (auch in der Literatur der Rabbiner) vgl. Hermann Leberecht Strack, Paul Billerbeck: Kommentar zum Alten Testament. Aus Talmud und Midrasch, München 1924, Band IV, S. 886, 893; Hugo Gressmann: Der Messias, Göttingen 1929, S. 150–163.

      6Sigmund Mowinckel: He that Cometh, Oxford 1956, S. 143. Vgl.auch S. 144: »Die Restauration ist eine Rückkehr der Dinge zu ihrer ursprünglichen Vollkommenheit, die letzten Dinge werden die ersten sein.«

      7Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S. 294–301. Der Begriff Tikkun taucht bei mehreren deutsch-jüdischen Philosophen auf; außer Scholem verwenden ihn Buber, Bloch und indirekt Benjamin.

      8Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 196.

      9Georges Darien: »Anarchistes«. In: L’Ennemie du peuple, Paris 1972, S. 166.

      10Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, S. 313.

      11Gershom Scholem: Die jüdische Mystik …, S. 20. Vgl. auch Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt am Main 1992, S. 30f: »Es gibt keine Kontinuität zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit … Mit Erlösung war eine Revolution in der Geschichte gemeint.«

      12Gershom Scholem: »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, Judaica I, S. 24f. Die Kritik Scholems an der Vernachlässigung der katastrophischen Dimension des jüdischen Messianismus und an seiner Reduzierung auf die Fortschrittsidee wendet sich ausdrücklich gegen Hermann Cohen, indirekt

Скачать книгу