Erlösung und Utopie. Michael Löwy
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Für viele junge jüdische Intellektuelle wird der Rationalismus, der Glaube an die Evolution des Fortschritts im Sinne der Aufklärung und die Philosophie der Neukantianer zum Anknüpfungspunkt. Diese Position steht nicht im Widerspruch zu einer Art von »verdünntem« Judentum, oft reduziert auf bloße monotheistische Ethik im Sinne von Hermann Cohen. Im Rahmen dieser Weltanschauung sind mehrere Standpunkte möglich. Das geht vom gemäßigten Liberalismus, der die bevorzugte Ideologie der jüdischen Bourgeoisie darstellt, bis zur Anhängerschaft an die Sozialdemokratie (Eduard Bernstein), an den Marxismus (Max Adler, Otto Bauer und die Austro-Marxisten) und sogar an den Kommunismus (Paul Levi, Ruth Fischer, Paul Frölich, August Thalheimer). Die vorherrschende Strömung im Geistesleben Mitteleuropas um die Jahrhundertwende aber ist der romantische Antikapitalismus. Es ist demnach unvermeidlich, daß ein großer Teil der neuen jüdischen Intelligenz, die ihre Universitätsausbildung um die Jahrhundertwende erhalten hat, von der romantischen Kritik an der industriellen Zivilisation wie »Naphta!« fasziniert ist. Gierig machen sie sich diese nostalgische, antibürgerliche Weltanschauung zu eigen. Im universitären Milieu gibt es ohnehin keine andere, vor allem nicht in den Geisteswissenschaften, auf die sich das Gros der jüdischen Studenten stürzt. Was daraus folgt, ist die Weigerung, in das Geschäft des Vaters einzutreten, die Revolte gegen das bürgerliche Familienmilieu und das heftige Streben nach einer »intellektuellen Lebensweise«.14 Nun kommt es zum Generationskonflikt, der von so vielen jüdischen Intellektuellen in ihrer Autobiographie beschrieben wird: dem Bruch der jungen, auf Kultur, Spiritualität, Religion und Kunst versessenen Antibourgeois mit ihren Eltern, die als Unternehmer, Geschäftsleute oder Bankiers erfolgreich sind und sich in Sachen Religion eines gemäßigten Liberalismus befleißigen, der sie nicht daran hindert, gute deutsche Patrioten zu sein.15 Leo Löwenthal, Literatursoziologe der Frankfurter Schule, schildert das Gefühl, das viele Intellektuelle seiner Generation beherrschte, in einem Interview: »Mein Elterhaus war sozusagen die Symbolisierung all dessen, was ich nicht wollte – schlechter Liberalismus, schlechte Aufklärung und doppelte Moral.«16
Mannheim verwendet den Begriff Generationszusammenhang, um die enge Bindung zu bezeichnen, die aus der Teilhabe an einem gemeinsamen geschichtlichen und gesellschaftlichen Schicksal einer Generation erwächst.17 Tatsächlich ist der Bruch zwischen den Generationen kein biologisches Faktum. Nur unter ganz bestimmten sozialen Bedingungen entsteht ein Abstand oder sogar eine Kluft zwischen den Generationen. Bei der neuen jüdischen Intelligenz, die in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde, läßt sich solch ein Generationszusammenhang nachweisen. Er betrifft die Gruppe von Intellektuellen, der diese Untersuchung gewidmet ist. Sie alle sind etwa in den letzten zwanzig Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren: Martin Buber 1878, Franz Kafka 1883, Ernst Bloch 1885, Georg Lukács 1885, Franz Rosenzweig 1886, Walter Benjamin 1892, Ernst Toller 1893, Gershom Scholem 1897, Erich Fromm 1900, Leo Löwenthal 1900. Allerdings muß ergänzt werden, daß die oben skizzierte soziologische Analyse lediglich Aufschluß gibt über die Chancen einer bestimmten Anzahl dieser jüdischen Intellektuellen, den romantischen Antikapitalismus zu vertreten. Sie kann nicht erklären, warum gerade diese Wahl von diesem oder jenem Menschen getroffen worden ist. Zu diesem Zwecke müßte eine Reihe von anderen Variablen geklärt werden, zum Beispiel solche psychologischer Natur. Das Beispiel der Familie Scholem mag hier aufschlußreich sein: Einer der Söhne, Reinhold, wird deutscher Nationalist, und bleibt es sogar nach 1945 …; der andere, Werner, betätigt sich als kommunistischer Abgeordneter, und den dritten, Gerhard, kennen wir als Zionisten und Historiker der Kabbala … Das soziale Milieu allein kann eine derartige Unterschiedlichkeit der Lebensläufe ganz offensichtlich nicht erklären!
Für den jüdischen Intellektuellen der »romantischen Generation« der Jahre 1880, der manchmal die halböffentlichen Kreise frequentierte, in denen der romantische Antikapitalismus erstmals in Begriffe gefaßt wurde (Lukács und Bloch besuchten den Kreis um Max Weber in Heidelberg), stellte sich sofort ein ganz bestimmtes Problem. Der Traum von der Vergangenheit, das wesentliche der romantischen Position, wurde von Assoziationen genährt, die über deutsches Nationalbewußtsein hinaus eine gemeinsame Geschichte und Religion, vielleicht sogar die Zugehörigkeit zur Aristokratie, voraussetzten.
Wie aber sah die Beziehung eines Juden zum Germanentum der Vorfahren aus, zum mittelalterlichen Adel, zum protestantischen oder katholischen Christentum? Von diesem allen Deutschen gemeinsamen kulturellen Erbe war er völlig ausgeschlossen. Es ist richtig, daß bestimmten jüdischen Intellektuellen der Sprung gelang, vor allem die Mitglieder des Kreises um Stefan George waren hier sehr erfindungsreich. Rudolf Borchardt wandelte sich zum deutschen Nationalisten; Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl zu konservativen Germanisten, Hans Ehrenberg zum protestantischen Theologen. Aber derart extreme Fälle kamen selten vor, sie lassen auf eine einigermaßen künstliche, selbstentfremdende Entwicklung und eine völlige Verneinung der jüdischen Identität schließen. Eine nicht zu überbietende Manifestation dieser Haltung liegt uns vor im Werk jüdischer Antisemiten wie Otto Weininger und Theodor Lessing. Für die anderen und damit für die Mehrzahl gab es im Rahmen der Neuromantik nur zwei mögliche Auswege: entweder die Rückkehr zu den eigenen historischen Wurzeln, zur eigenen Kultur und zur Nationalität und Religion der eigenen Ahnen, oder der Glaube an eine romantische und revolutionäre Utopie, die universellen Charakter hatte. Es ist nicht erstaunlich, daß eine Anzahl jüdischer Denker deutscher Sprache, die als Anhänger des romantischen Antikapitalismus gelten können, beide Wege gleichzeitig wählten. Sie entdeckten die jüdische Religion für sich neu, vor allem die restaurativen und utopischen Tendenzen des Messianismus, und sympathisierten bzw. identifizierten sich sogar mit revolutionärem, utopischem Gedankengut, das in gleicher Weise von Sehnsucht nach der Vergangenheit erfüllt war. Wie wir oben bereits gezeigt haben, entsprachen beide Tendenzen in struktureller Hinsicht einander.
Sehen wir uns die Wege näher an, die sie gingen. In der religiösen Atmosphäre der Neuromantik revoltieren viele jüdische Intellektuelle gegen die Assimilation ihrer Eltern und versuchen, die religiöse Kultur der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. So vollzieht sich eine De-Säkularisation, eine (partielle) Dissimilation, eine kulturelle und religiöse Anamnese, eine »An-Akkulturation«.18 Es gab Kreise und Vereinigungen, die hier als treibende Kräfte wirkten: der Club Bar Kochba in Prag, zu dessen Mitgliedern Hugo Bergmann, Hans Kohn und Max Brod zählten, der Kreis um den Rabbiner Nobel in Frankfurt (Siegfried Kracauer, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst Simon), das Freie Jüdische Lehrhaus mit Franz Rosenzweig, Gerhard Scholem, Nahum Glatzer, Margarete Süssmann, die Zeitschrift Martin Bubers Der Jude usw. Aber diese »An-Akkulturation« erfaßt noch weitaus breitere Bereiche der Gesellschaft. Eine Vielzahl der von der Neuromantik beeinflußten jüdischen Intellektuellen sind von ihr betroffen. Sie trägt manchmal nationale Züge, vor allem durch den Zionismus, aber ihr vorherrschendes Charakteristikum ist die Hinwendung zur Religiosität. Die Auswirkungen der Assimilation gehen so tief, daß es äußerst schwierig ist, mit dem deutschen Nationalbewußtsein zu brechen. Im Rahmen des fortgeschrittenen Assimilierungsprozesses in Mitteleuropa verbleibt die Religion als einzig legitimes Merkmal für die »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Demnach ist es verständlich, daß sie schnell zum wichtigsten Ausdrucksmittel der kulturellen Rückbesinnung wird.
Dennoch handelt es sich um eine neue Form von Religiosität. Sie ist geprägt von der Spiritualität der deutschen Romantik und sehr verschieden