Erlösung und Utopie. Michael Löwy

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Erlösung und Utopie - Michael Löwy

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die einzige Möglichkeit sieht, soziale und nationale Ungleichheiten radikal auszumerzen. Anstelle des Zionismus votieren sie für den Anarchismus, den Anarchosyndikalismus oder eine romantische und libertäre Interpretation des Marxismus. Die Anziehungskraft dieser Ideen ist so groß, daß sie sogar die Zionisten beeinflussen; die Beispiele Martin Buber, Hans Kohn und Gershom Scholem zeugen davon.

      Für die ganz spezifische Faszination, die die libertäre Utopie vor allem vor 1917 auslöste, gibt es verschiedene Gründe. Von allen sozialistischen Theorien ist sie zunächst einmal am stärksten geprägt vom romantischen Antikapitalismus. Der orthodoxe Marxismus, der in diesen Zeiten mit der Sozialdemokratie identifiziert wird, erscheint hingegen wie eine etwas linkere Version der liberalistischen und rationalistischen Philosophie und verehrt wie diese die industrielle Zivilisation. Die Kritik Gustav Landauers am Marxismus (»Sohn der Dampfmaschine«) ist typisch für diese Einstellung. Der autoritäre und militaristische Charakter des deutschen Kaiserreichs ruft den antiautoritären und libertären Protest der deutschen Intelligenz vor allem nach 1914 hervor, wo er ihr als Moloch erscheint, der nach Menschenopfern giert. Außerdem entspricht der Anarchismus eher der Stellung der Intellektuellen »ohne soziale Bindungen«, ihrer Entwurzelung und ihrem Außenseitertum vor allem in Deutschland, wo – anders als in Frankreich, Spanien und Italien – die libertäre Bewegung nicht sozial organisiert war und über keine Massenbasis verfügte.

      Es ist die Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, die es möglich machte, daß in einem ganz bestimmten historischen Moment und inmitten einer ganz bestimmten Generation jüdischer Intellektueller der Zusammenhang zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie dynamisch wurde und sich in eine Beziehung der Wahlverwandtschaft verwandelte. Es ist schwierig festzustellen, welches das erste oder entscheidende Element gewesen ist. Wesentlich ist, daß sie sich wechselseitig befruchtet, bestärkt und stimuliert haben. In diesem spezifischen Zusammenhang entsteht das komplexe Netz von Verbindungslinien zwischen romantischem Antikapitalismus, Renaissance der jüdischen Religion, Messianismus, antibürgerlicher und antietatistischer kultureller Revolte, revolutionärer Utopie, Anarchismus und Sozialismus. Diesem sozialen und geschichtlichen Prozeß, der sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelt, gilt es nun, das konkrete politische Zusammentreffen bestimmter Umstände innerhalb einer Epoche hinzuzufügen.

      Der Aufschwung der revolutionären Bewegungen im Europa dieser Zeit läßt sich innerhalb der Geschichte der Neuzeit mit nichts Ähnlichem vergleichen. Er beginnt mit der russischen Revolution im Jahre 1905 und endet mit dem definitiven Scheitern der deutschen Revolution im Jahre 1923. Es ist kein Zufall, wenn die wichtigsten Werke, in denen sich die Wahlverwandtschaft zwischen Messianismus und Utopie manifestiert, in diesem Zeitraum entstehen.

      So stammen »Die Revolution« von Landauer aus dem Jahre 1907, »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Georg Lukács und die zweite Ausgabe von Ernst Blochs »Geist der Utopie« aus dem Jahre 1923. Ebensowenig kann es Zufall sein, wenn die Schriften, in denen die Wahlverwandtschaft am intensivsten und am tiefsten empfunden wird und sich Messianismus und libertäre Utopie am radikalsten und am explosivsten äußern, in den Jahren 1917 bis 1921 entstehen, in denen die revolutionäre Welle ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Zeitabschnitt zum Beispiel wurde »Der Heilige Weg« von Buber veröffentlicht, das Vorwort zur Neuauflage von »Aufruf zum Sozialismus« von Landauer, »Die Kritik der Gewalt« von Benjamin, »Der Geist der Utopie« von Bloch, »Der Bolschewismus als moralisches Problem« von Lukács und die beiden großartigen Theaterstücke von Ernst Toller, »Die Wandlung« und »Masse Mensch«. Das soll nicht heißen, daß diese Problematik nach 1923 nicht weiterbestand, wenn auch die äußere Form, ihr Charakter und ihre Intensität eine andere waren. In der Zeit der Katastrophe zwischen 1940 und 1945 kommt sie wieder zum Vorschein. In diesem Zeitraum entstehen Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, Martin Bubers »Utopie und Sozialismus« und wesentliche Teile von »Das Prinzip Hoffnung« von Ernst Bloch.

      Bleibt noch zu klären, warum dieser »metaphysische Anarchismus« oder revolutionäre, romantisch inspirierte Messianismus fast ausschließlich auf Mitteleuropa beschränkt blieb.

      Der Typ des revolutionären Juden ist in der politischen und kulturellen Szene Westeuropas praktisch nicht existent. Eine Ausnahme bilden hier die Juden, die, aus Osteuropa stammend, in England und auch in den Vereinigten Staaten zu ausgebeuteten Proletariern wurden. Aus dieser Gesellschaftsschicht kommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts die militanten Anarchisten und Sozialisten. Die Juden aus altem westeuropäischem Stamm hingegen sind national und kulturell völlig assimiliert und soziale und politische Konformisten. Die Intellektuellen aus diesen Kreisen identifizieren sich gänzlich mit dem vorherrschenden bürgerlichen Liberalismus. Die Quellen für ihre Integration liegen in den bürgerlichen Revolutionen, die in Holland seit dem 16. Jahrhundert, in England seit dem 17. Jahrhundert und in Frankreich seit 1789 zur Emanzipation der Juden führten und deren wirtschaftliche, soziale und politische Integration in die kapitalistische Gesellschaft möglich machten. Wenn der revolutionäre Jude in Mittel- und Osteuropa auftaucht, so ist das vor allem zurückzuführen auf die Verzögerung oder das Scheitern der bürgerlichen Revolution in diesem Teil des Kontinents und auf die Verzögerung der kapitalistischen Entwicklung. Deren Resultat ist der begrenzte Charakter der jüdischen Emanzipation und Assimilation und die Paria-Situation der jüdischen Bevölkerung.

      Der romantische, revolutionäre Messianismus hat die jüdische Intelligenz des Westens kalt gelassen. Die polemischen, rationalistisch-liberal geprägten Schriften, die heftig Stellung beziehen gegen diesen Typ von religiöser Utopie, stammen von jüdischen Intellektuellen englischer Muttersprache, zum Beispiel das Buch des 1915 in London geborenen Norman Cohn: The Pursuit of the Millenium. Revolutionary millenarians and mystical anarchists of the Middle Ages (London, Secker & Warburg, 1957) oder das eines ehemaligen Beamten des Foreign Office, Jakob Talmon: Political Messianism. The Romantic Phase (London, Secker & Warburg, 1960).

      In Osteuropa sieht die Situation jedoch ganz anders aus, vor allem im russischen Reich, das vor 1918 auch Polen und die baltischen Staaten umfaßte. Die Teilnahme der Juden an den revolutionären Bewegungen ist hier viel massiver als in Mitteleuropa und im Gegensatz zu Deutschland blieb sie nicht auf die Intellektuellen beschränkt. Das ganze jüdische Proletariat organisiert sich im Bund oder hält es mit den beiden Fraktionen der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands): den Bolschewiki und den Menschewiki. Dies ist leicht zu erklären durch den höheren Grad an Unterdrückung, die andersartige soziale Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung, die zum größten Teil aus pauperisierten Arbeitern besteht, und die Gewalttätigkeit des überall dominierenden Antisemitismus. Mit einem Wort, die Paria-Situation der Juden im Zarenreich ist unvergleichlich brutaler als in Mitteleuropa. In allen revolutionären Bewegungen Osteuropas findet man eine Vielzahl jüdischer Intellektueller unterschiedlichster Couleur.

      Die bekanntesten von ihnen bilden nur die sichtbare Spitze des Eisbergs: Leo D. Trotzki (Bronstein), Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julius Martow (Zederbaum), Raphael Abramowitsch, Leo Deutsch,

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