Geheimnisse. Dana Lyons
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Martin stieg seine Kellertreppe hinab und ging geradewegs zu einem massiven, versenkten Bücherregal. Das große Holzregal war ein Projekt, an dem er drei Monate lang gearbeitet, das Stück an der südlichen Wand angebracht hatte. Er zog an einem Hebel, der das Bücherregal auf Z- Scharniere hob, und, mit einem sanften Drücken, öffnete es sich zu dem Freiraum dahinter.
Dieser versteckte Raum machte sein Haus einzigartig wertvoll, gab ihm einen geheimen Zugang zu einem Gewirr alter unterirdischer Tunnel, welche die Hauptversorgungskorridore der Stadt verbanden. Von der Privatsphäre seines eigenen Zuhauses konnte er ungesehen und unbemerkt durch große Bereiche der Stadt reisen. Er eilte durch die Tunnel dahin, brauchte keine Karte, um sein Ziel zu erreichen.
Er erreichte den Kanalschacht in einer Gasse hinter Haleys Lieblingscafé, schob die Abdeckung beiseite und sprang hinaus. Innerhalb von Sekunden legte er die Abdeckung zurück, glättete seine Jacke und ging um die Ecke.
Haley saß neben dem Fenster, wo das Sonnenlicht des frühen Morgens ihren blonden Kopf erhellte. Als sie ihr Haar über ihre Schulter warf, musste er sich abwenden. Sein Magen flatterte vor Aufregung.
Ein Platz, Rücken an Rücken mit ihr, wurde frei und er schob sich mit seinem schaumigen Latte durch die Menge. Er zog den Stuhl heraus, stieß ihren dabei an. Sie drehte sich um und gab ihm die Ehre eines Lächelns. »Oh, bitte entschuldigen Sie«, sagte sie und rückte nach vorn, um ihm mehr Platz zu machen.
Der Latte war köstlich, so wie der vorzügliche Duft ihres Haars, der über seine Schulter waberte. Nicht blumig, wie seine Mutter es benutzt hatte, sondern ein frischer und würziger Geruch. Er inhalierte ihn tief, sog ihn ein. Er befand ihn für gut.
Ihre Stimme war nett, während sie mit ihrer Freundin plauderte, einer jungen Frau, die brünett war, und deshalb keine Kandidatin, um die Worte zu sagen. Die spezielle Frau, die er auswählte, musste blond und schön sein, wie seine Mutter.
»Irgendwelche guten Aussichten auf AlleyOop?«, fragte Haleys Freundin.
»Was für ein Online-Dating-Witz«, lamentierte Haley. »Wenn AlleyOop repräsentiert, was da draußen verfügbar ist, bin ich in Schwierigkeiten. Nur deren Fotos anzuschauen ist mir nicht geheuer. Wer weiß, was diese Männer zum Online-Dating brachte?«
Martin spürte, wie seine Brust vor Freude anschwoll.
Sie versteht es!
Er drückte sich in seinem Stuhl zurück, um besser hören zu können.
»Vielleicht sagen sie dasselbe, wenn sie dich anschauen«, sagte die Freundin lachend.
»Ha!« Haley fiel in das Kichern ein. »Ich habe nie daran gedacht.« Sie seufzte vor Sehnsucht. »Ich würde nur einfach gerne einen netten Kerl treffen, der nach Liebe sucht.«
Ihre Worte ließen seine Augen feucht werden. Er unterdrückte den Drang aufzuspringen und zu brüllen: »Ich bin hier. Ich bin der Eine. Ich suche nach Liebe.« Da er wusste, dass dies nicht die Zeit und der Ort war, tupfte er seine Augen mit einer Serviette trocken und zog seinen Kopf an, um sein Gesicht zu verstecken, das Gesicht, das niemand sah.
Unsichtbar, sogar für meine eigene Mutter.
Er war sieben Jahre alt, als er wusste, dass seine Mutter ihn nicht liebte. Nachdem er von dem Baum gefallen war, sprach er wochenlang nicht mit ihr – das schien ihnen beiden zu passen. Er vergaß nie ihren hohlen Blick, wie sie sein Schmerz nicht kümmerte. Haley wäre nicht so. Wie er, suchte sie nach Liebe.
Haley, ich bin genau hier und ich bin genau, was du willst.
Die zwei Mädchen plauderten und Haleys Stimme beruhigte ihn in einen Zustand der Zufriedenheit, denn er wusste, dass sie beide bald ein Date hätten.
Sein Verstand trieb zu einer Nacht im Februar, als er zwölf war, eine bittere Nacht, die sein Leben auf einigen Ebenen veränderte. Es war beinahe neun Uhr, als ein Klopfen an ihrer Tür erklang. Er sprang auf, begierig auf jedwede Ablenkung, um den trostlosen Abend allein mit seiner Mutter zu unterbrechen.
»Öffne nicht die Tür, Martin«, sagte sie. »Sieh zuerst nach. Wer ist es?«
Tief in dem Moment konnte er klar ihre Stimme hören, konnte in seinem Geist sehen, wie seine Hand langsam den Türgriff berührte. Er drückte sein Auge auf das Guckloch der Tür. Draußen und beinahe außer Sicht waren zwei dunkle Gestalten, ganz eingemummelt.
Ihre Gesichter waren versteckt. Ein instinktiver Teil von ihm wusste sofort, dass diese beiden nichts Gutes im Sinn hatten. Seine Hand zog sich vom Türgriff zurück.
Hinter ihm saugte seine Mutter an ihren Zähnen. »Also?«, fragte sie, ihre ständige Verachtung eine vernichtende Zurückweisung seiner bloßen Existenz. Er atmete aus und legte seine Stirn vorsichtig auf die Tür, während er darum kämpfte seinen Zorn zu kontrollieren.
Mein ganzes Leben und du konntest dich nicht dazu bewegen mich zu lieben.
Er verlor den Kampf, sein Zorn übernahm. Er drehte den Griff und öffnete die Tür, ließ sie hinein. Was er in dieser Nacht gelernt hatte, verließ ihn nie. Er lernte den Wert der Furcht und des Verlangens und er entdeckte, dass alle Barrieren durchdrungen werden konnten, auf die eine oder andere Weise.
Im Café stand Haley auf und ihr Stuhl knallte in seinen, rüttelte ihn aus seinen Erinnerungen. »’Tschuldigung«, sagte sie lächelnd. In seinem Geist blieb sie und sprach mit ihm. Während einem weiteren Latte wurden sie schnell zu Freunden und gingen Hand in Hand.
»Oh, kein Problem«, stieß er hervor, aber sie hatte sich bereits umgedreht, um hinauszugehen. Seine Worte verklangen zu einem Murmeln und er schaute nach unten, die Augen gegen den Schmerz der Zurückweisung fest zusammengedrückt.
Haley, bist du die Eine?
Am nächsten Morgen starrte Dreya auf die Mordtafel in ihrem Büro, suchte nach diesem einen Stück, das zu einem Hinweis werden würde. »Ich habe nichts.«
Simon stand neben ihr. »Abgesehen von den körperlichen Ähnlichkeiten waren diese Frauen Fremde. Eine Kellnerin, eine Verkäuferin, eine Sekretärin, eine Hochzeitsplanerin und eine Veterinärtechnikerin. Keine hatte ein Haustier, keine hat im Geschäft der Verkäuferin eingekauft, keine aß bei der Arbeit der Kellnerin, keine war mit irgendeiner der anderen befreundet, auch nicht auf irgendeine Weise verwandt, keine von der Planerin verheiratet.«
»Haben die irgendetwas auf den Computern oder Handys gefunden?«, fragte sie.
»Ich habe bei der Asservatenkammer angefordert, dass deren Handys geliefert werden. Die einzige Anmerkung ist –«
»Feste Freunde«, platzte Dreya heraus. »Keine dieser Frauen hatte einen festen Freund. Sind wir sicher, dass sie nicht nebenbei einem Geschäft nachgingen?«
»Genau«, erwiderte er. »Keine Freunde, aber nicht im Geschäft. Die letzten drei hatten Profile auf einer Online-Dating-Seite.«
»Welcher?«
»AlleyOop.«
Sie kniff sich in den Nasenrücken und schüttelte ihren Kopf. »Du machst Scherze, oder?«