Die verschwundene Melodie. Arno Alexander
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Читать онлайн книгу Die verschwundene Melodie - Arno Alexander страница 5
„So ist es, Mr. Manhattan“, antwortete Lux, und seine Mienen drückten Erstaunen aus. „Dieser Brief wurde vor fünf Minuten durch einen Boten abgegeben.“ Da sein Herr noch immer kein Wort sprach, fuhr er fort: „Im übrigen scheint heute die Sonne, und der Himmel ist fast unbewölkt ...“
„Scher dich zum Teufel!“ knurrte Mr. Manhattan in plötzlich erwachtem Zorn.
„Wie Sie wünschen, Mr. Manhattan“, entgegnete Lux gemessen.
Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als Manhattan ihn schon wieder zurückrief. Seine Hand, die einen geöffneten Brief hielt, zitterte leicht.
„Rufen Sie sofort den Detektiv Huntington her!“ kreischte er. „Sofort!“
„Mr. Huntington wird sogleich hier sein. Er wartet unten.“
„Er wartet? Warum meldeten Sie ihn denn nicht an, Sie Kamel?!“
Lux zog kaum merklich die Brauen in die Höhe.
„Mr. Huntington wünschte nicht zu stören. Seit etwa acht Tagen wartet er jeden Morgen über eine Stunde hier, will aber nur dann vorgelassen werden, wenn Sie selbst nach ihm verlangen.“
„Verrückt! Das hätten Sie mir melden müssen! Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mich über alles unterrichten, was in meinem Hause vorgeht. Verstanden?!“
Der Diener nickte ernst.
„Sehr wohl, Mr. Manhattan. Es ist mir auch lieber, wenn ich vor Ihnen keine Geheimnisse zu haben brauche. Es tat mir weh, Ihnen bis jetzt verschweigen zu müssen, daß Mr. Huntington acht Tage lang hier frühstückte und dabei jedesmal vier Eier verzehrte. Ich habe ihm gesagt, daß Sie zum Beispiel nur drei zu essen pflegen, aber er antwortete, mit weniger als vier könne er nicht gut gedeihen. Wir haben somit einen Verlust von zweiunddreißig Eiern. Sie werden verstehen ...“
„Ich verstehe, daß Sie ein Esel sind! Rufen Sie sofort Huntington. Schnell!“
Lux sollte heute aus dem Staunen nicht herauskommen. Zwei Minuten später meldete er nämlich kühl und gelassen wie immer, doch mit merklich schwankender Stimme:
„Mr. Huntington ist nicht mehr da. Es ist das erstemal, daß er gegangen ist, nachdem er erst drei Eier verzehrt ...“
Manhattan warf mit einer zornigen Gebärde den Kopf zurück.
„Ah! Zum Donnerwetter!“ knurrte er wütend. „Lassen Sie mich mit dem Kram ungeschoren!“ Nach einer Weile beruhigte er sich und fügte in verändertem Ton hinzu: „Nun, Huntington wird schon wiederkommen. Das hat auch schließlich keine Eile. Aber jetzt muß ich vor allem einen Notar haben. Ich will nämlich mein Testament machen. Wie finden Sie diesen Gedanken, Lux?“
Der Diener wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.
„Sehr beachtenswert, Mr. Manhattan. Ich sagte dies schon, als Sie vor zwei Monaten Ihr letztes Testament machten. Jeder Mensch sollte ab und zu ein Testament machen.“
„Reden Sie kein Blech! Nur ein Mensch mit Geld kann und soll ein Testament machen. Ich habe Geld, und ich will es unter meinen Verwandten gerecht verteilen. Keinen Cent sollen sie bekommen. Ich weiß ganz genau, daß sie alle nur auf meinen Tod und mein Geld lauern ...“
„Nicht alle, Mr. Manhattan“, warf Lux dazwischen.
„Ach, Sie meinen die kleine Evelyn, die mich pflegte, als ich krank war? Sie täuschen sich: auch sie ist nicht besser als die anderen. Sie pflegte mich nur, damit ich ihr etwas vermache. Ich habe ihr jeden Morgen klargemacht, daß sie in meinem Testament mit keinem Cent bedacht ist. Sonst hätte ich den Abend nicht mehr erlebt; sie hätte mich sofort vergiftet — verlassen Sie sich darauf!“
„Nicht alle Menschen sind so schlecht“, widersprach Lux abermals traurig.
„Alle!“ schnitt Manhattan ab. „Wieviel hatte ich übrigens Ihnen vermacht, Lux?“
„Nichts“, antwortete der Diener gelassen.
„Hm ... etwas wenig ... nicht wahr ... hm ...“ meinte Manhattan unsicher.
„Oh, nicht doch!“ entgegnete Lux höflich. „Bei einiger Sparsamkeit läßt sich schon eine Zeitlang ganz nett davon leben.“
„Ich werde Sie diesmal mit achttausend Dollars bedenken!“ erklärte Manhattan gnädig.
„Ich danke Ihnen, Mr. Manhattan! Ich werde mich als reicher Mann fühlen, bis Sie Ihr übernächstes Testament machen.“
„Sie sind ein Schaf! Das Testament, das ich jetzt mache, ist mein allerletztes. Unwiderruflich! Punktum!“
Lux schickte sich an, seines Weges zu gehen.
„Ich weiß“, nickte er, „ganz so wie immer, Mr. Manhattan.“
5
Mit halber Geschwindigkeit fuhr der Expreßzug um die gefährliche Kurve bei Norwalk. Der Lokomotivführer Tom Dryer war ein gewissenhafter und vorsichtiger Mann; obwohl die Vorschrift lautete, die Kurve mit vierzig Stundenkilometer zu durchfahren, zeigte sein Tachometer hier nie mehr als dreißig.
„Das reinste Schneckentempo“, knurrte der Heizer und warf einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. „Es wird wieder Mitternacht, bis wir nach New York kommen.“ Er saß auf einer rußbedeckten Kiste, hatte die in dicken, plumpen Stiefeln steckenden Füße weit von sich gestreckt und hielt in der einen Hand eine Kohlenschaufel, in der andern eine halbleere Whiskyflasche. Wenn es nach New York ging, konnte man es ihm nie schnell genug machen, denn in der Stammkneipe warteten seiner verbotene Genüsse. „Verrückt! Soll das ein Expreßzug sein?“ murrte er und tat einen tiefen Schluck aus seiner Flasche.
Tom Dryer ließ sich nicht beirren. Er stand breitbeinig, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen, vor seinen Hebeln und beobachtete scharf das durch den grellen Scheinwerfer hell beleuchtete Gleis.
„Mein Vater verunglückte an dieser Stelle, obwohl er bestimmt nicht mehr als vierzig Kilometer fuhr“, sagte er gelassen. „Man hat damals versucht nachzuweisen, daß er in jener Nacht schneller gefahren ist. Sachverständige haben ein Gutachten abgegeben, wonach er mindestens eine Geschwindigkeit von sechzig Kilometern gehabt haben mußte. Ich weiß es besser — oft genug erklärte mir mein Vater, daß es heißt, mit Menschenleben spielen, wenn man auch nur einen einzigen Kilometer mehr hat, als die Vorschrift lautet. — Und darum fahre ich hier nie über dreißig Kilometer.“
Der andere brummte etwas Unverständliches.
Tom warf einen Blick auf die Strecke, dann rückte er einen Hebel weiter. Die Riesenlokomotive zog sofort an: der Geschwindigkeitsmesser stieg langsam wieder auf sechzig.
„Jetzt fahren wir gleich in den Tunnel ein“, bemerkte Tom ruhig, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und versuchte seiner ausgegangenen Pfeife neues Leben einzuflößen. „Hier zum Beispiel kann ich mit gutem Gewissen sechzig Kilometer wagen. Das Durchfahren des Tunnels dauert drei Minuten, und die Strecke ist kerzengerade.“
Nun schien der Heizer mit der Geschwindigkeit zufrieden. Er stand langsam auf und bot Tom seine Flasche.
„Siehst