Die verschwundene Melodie. Arno Alexander
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„Niemand hat einen derartigen Verdacht geäußert. Wir mußten aber Ihre Papiere einsehen. Ich bedaure außerordentlich, aber meine Pflicht ...“
In diesem Augenblick trat ein fein gekleideter junger Mann hastig auf den Beamten zu und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.
Doris schob sich näher heran. Eine dunkle Ahnung sagte ihr, daß zwischen dem Mord am Kontrolleur und dem Ausbleiben Evelyns ein Zusammenhang bestehen müsse. Sie stand jetzt so nahe, daß sie einzelne Worte der halblaut geführten Unterhaltung hören konnte. Erst sprach der junge Mann:
„... ein hoher Würdenträger ... verhängnisvolle Folgen ...“
„Ich verstehe“, lautete die höfliche Antwort des Beamten. „Wir wollen natürlich jedes unnötige Aufsehen vermeiden. Die Papiere dieses Herrn sind ja auch in Ordnung. Wie ist Ihr Name, und wer sind Sie?“
Der andere beugte sich vor. Ein mit vielen Stempeln versehenes Papier auseinanderfaltend, flüsterte er: „Daniel Clayvills, Chef der Privatdetektei Clayvills & Huntington.“
Der Beamte schrieb sich etwas in ein Büchlein, dann verneigte er sich höflich. „Sie können gehen“, erklärte er kurz.
Doris’ Interesse an der Angelegenheit war schon fast geschwunden, als eine kleine Beobachtung von neuem ihre Aufmerksamkeit darauf lenkte. Der Blondbärtige machte Miene, noch etwas zu sagen, als plötzlich ein sanfter Rippenstoß Clayvills ihn verstummen ließ. Dieser Stoß war so berechnet, daß der Polizeibeamte ihn nicht bemerken konnte; Doris aber hatte ihn deutlich gesehen, und es nahm sie Wunder, daß ein Privatdetektiv einen hohen Würdenträger so zu behandeln wagte.
Diese kleine Beobachtung hatte zur Folge, daß Doris eine Zeitlang scheinbar völlig teilnahmslos vor den beiden herging, als diese gemeinsam durch die Bahnhofshalle schritten. Sie vernahm dabei, wie der Detektiv die Handlungsweise des hohen Würdenträgers beurteilte, wobei er sie mit Ausdrücken wie „bodenlose Dummheit“ und „einfältiges Gebahren“ belegte.
Doris war ein seltsames Mädchen. Obwohl sie in der Woche nur fünfzig Dollars verdiente, wovon sie noch ihre Schwester unterstützte, und daher sehr sparen mußte, gab sie an diesem Morgen doch fünf Dollars und fünfzig Cents für eine Autospazierfahrt aus.
Das Ergebnis war, daß sie um acht Uhr morgens, bevor sie den ersten Bogen in die Schreibmaschine spannte, in ihr Merkbuch kritzelte:: „Der hohe Würdenträger wohnt: Old Cross Road 81.“
6
Die Abendblätter brachten eine kurze Mitteilung über den mutmaßlichen Unfall des Fahrkartenkontrolleurs Al Fuller. Zwei Blätter sprachen die Vermutung aus, es liege ein Mord vor, die meisten begnügten sich damit, ohne Erläuterung die Angaben der Polizei abzudrucken. Nur das New York Daily Journal, eine wenig verbreitete und noch weniger gelesene Zeitung, hatte gewagt, das Wort „Mord“ fett gedruckt als Überschrift einiger knapper Zeilen zu setzen, durch die den Lesern für die nächste Morgenausgabe sensationelle Enthüllungen versprochen wurden. Dieses Blatt war auch das einzige, das von dem im Tunnel bei Norwalk gefundenen und beinah überfahrenen Mädchen berichtete und dieses Ereignis mit dem Mord an dem Kontrolleur in Zusammenhang brachte.
Niemand hätte es geglaubt, daß am nächsten Tage das Polizeipräsidium fünfundzwanzigtausend Exemplare der Morgenausgabe aufkaufen und von weiteren Käufen nur deshalb absehen würde, weil keine einzige Nummer mehr verkäuflich war.
Außer der Schriftleitung und den Mitarbeitern des New York Daily Journal gab es bis neun Uhr früh in ganz New York keinen Menschen, der sich für die Morgenausgabe mit den versprochenen sensationellen Mitteilungen interessiert hätte. Um neun Uhr begannen die Zeitungsjungen wie verrückt ihre Nummern auszuschreien, und nur durch die vielversprechenden Schlagworte herangelockt, fing das Publikum an, langsam zu kaufen. Um halb zehn Uhr aber lag eine Nummer der Ausgabe vor dem Polizeipräsidenten, und der tüchtige Konstabler, der sie ihm gebracht hatte und durch diese einfache Tat seine Beförderung sicherstellte, starrte erhitzt und schwer atmend auf die röter und röter werdende, kugelförmige Glatze seines Gebieters.
„Beschlagnahmen!“ brüllte der Allgewaltige auf und trommelte wie besessen mit beiden Fäusten auf den Tisch.
„Ich habe mich erkundigt“, antwortete der übereifrige Beamte. „Keine Nummer befindet sich mehr im Redaktionsgebäude. Alles ist bereits unter die fliegenden Händler verteilt.“
„Beschlagnahmen!“ kreischte der Herrscher über ein Heer von Polizisten, und das Rot seiner Glatze nahm einen bläulichen Schimmer an. „Beschlagnahmen! Beschlagnahmen! ...“
Er schrie es noch, als der dienstbeflissene Konstabler längst aus dem Zimmer war, und sämtliche Fernsprechleitungen des Riesengebäudes mit dem Übermitteln dieses kategorischen Befehls beschäftigt waren.
Zehn Minuten später überflutete ein Massenaufgebot von Polizisten die Straßen New Yorks. Eine wilde Jagd nach den Zeitungsverkäufern setzte ein. Das Publikum, aufmerksam geworden, begann sich für die Zeitung zu interessieren. Die Nummern wurden denjungen, die gleich Wieseln hin und her rannten und überall durchschlüpften, vor den Augen der Polizei aus der Hand gerissen. Die Preise gingen ruckweise in die Höhe. Um zehn Uhr zahlte man einen halben Dollar für das fünf Cents kostende Blatt, und um halb elf war keines mehr unter einem Dollar zu haben.
Das Ergebnis der Beschlagnahme war geradezu vernichtend: um elf Uhr hatte man erst viertausend Exemplare beisammen. Es war, als wenn die Zeitungsjungen sich verabredet hätten: Keiner hatte mehr als zwanzig Nummern auf einmal in der Hand. Hatte er diese verkauft oder waren sie ihm von Polizisten entrissen worden, so holte er stets mit einem pfiffigen Schmunzeln aus einem schier unversiegbar scheinenden Vorrat neue und immer neue Nummern. Man schritt zu Verhaftungen. Es nützte nichts. Brüder, Schwestern und Freunde der Festgenommenen setzten den schwungvollen Handel unverdrossen in neuer Frische fort.
Es war halb zwölf, als der Polizeipräsident düster und erschöpft das eine Wort: „Kaufen!“ sprach. Es war ein Stöhnen, kein Befehl mehr.
„Die Kerle verlangen jetzt zwei Dollars pro Nummer“, antwortete man ihm, „und die Auflage der heutigen Zeitung ist laut Aufdruck zweihunderttausend Stück.“
„Kaufen!“ ächzte der Polizeipräsident heiser.
Man kaufte. Bis halb ein Uhr hatte man insgesamt fünfundzwanzigtausend Nummern beisammen.
„Kaufen!“ knirschte der Allgewaltige bleich vor Wut, da der Strom der eingelieferten Nummern zusehends spärlicher wurde.
Um ein Uhr gab es nichts mehr zu kaufen. Es war undenkbar, daß in der kurzen Zeit vor Augen der verfolgenden Polizei 171000 Exemplare verkauft worden waren. Es gab nur eine Erklärung: ein anderer hatte auch gekauft. Der Polizeipräsident wußte, wer es war: sein ärgster Feind, der gefährlichste Verbrecher in der Union war ihm diesmal zum Verbündeten geworden.
Um zwei Uhr war im Polizeipräsidium Ruhe eingetreten. Das Laufen, Jagen und Hetzen hatte aufgehört. Auf leisen Sohlen schlich man am Zimmer des Präsidenten vorbei. Er aber saß still an seinem Schreibtisch und starrte dumpf brütend in die unselige Zeitung. Immer wieder, zum hundertsten Male las er den Artikel, obwohl er ihn schon fast auswendig konnte.
Der Artikel war unterschrieben: E. C. Poor. Dieser Name wirkte auf den Polizeipräsidenten wie ein rotes Tuch auf den Stier. Der Reporter Poor war der einzige Mitarbeiter des Revolverblatts, der wirklich ernst zu nehmen war, da er längere