Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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des Menschen!

      Immer ein rechter und ein linker Schritt, und jeder ist ein Irrtum, eine Entartung der Absicht. In jedem Augenblicke aber wiegt auch der unsichtbare Meister in uns diese Verfehlungen gegeneinander ab. und zwischen unseren Füßen zieht er den Weg.

      Wie auf zwei Flügeln fallen wir über Abgründe unbekannten Küsten entgegen; denn auch unser ganzes Leben scheint aus dem Kampf des ewig Gegensätzlichen hervorzugehen. Den Ausschreitungen des Schicksals entlaufen wir, um in den Vertreibungen des Willens Schutz zu suchen. Aber welches Schema der Mensch auch ersinnt, um die stets flüchtige Hieroglyphe des Lebens zu bannen; er gleicht doch immer einem Manne, der ein Haus des Abends in Besitz nimmt und die Nacht über sich dort in eine Stube legt, um zu ruhen. Und wenn der Morgen heraufzieht, so muß er aufstehen und schon wieder davonziehen, und er weiß nicht, wer die waren, die in den dunkeln Stunden mit ihm unter demselben Dach gewesen sind, noch was ihm von ihnen und der unruhigen Nacht widerfahren ist. Nur auf dem Wege fällt ihm dies und das ein.

      So geht es mir, wenn ich auf die folgende Zeit meines Daseins zurückschaue.

      Nach der Ostervakanz zog ich auf das Seminar meiner Vaterstadt, das heißt, ich brachte die Unterrichtsstunden dort zu und wohnte als Ortseingesessener im Vaterhause, während meine Mitschüler im Internat hausten. War ich auch so der schlimmsten Beschädigung entrückt, so kostete ich doch soviel des Bitteren, daß ich es nie vergessen werde. Denn das System, nach dem man uns jungen Leute dort erzog, war das landläufige der Zerstörung und Unterjochung. Das Gebäude, in dem man uns in Unmündigkeit erhielt und jede freie Regung erdrosselte, lag außerhalb der Stadt, auf einer Bodenwelle und glich von außen in seiner kalten, grauen Härte einem Gerichtsgebäude oder einer Niederlassung der Trappisten. Durch seine hohen Gänge schlich eine pietistische Stickluft. Eine lebensfremde Frömmigkeit und Ehrbarkeit hockte in allen Winkeln, sprach aus allen Gesichtern. Die Lehrer schritten in steifer, geistlicher Würde einher und erlaubten sich nur, hinter verschlossenen Türen zu lachen. Sie thronten so fern in einer Wolke der Unnahbarkeit, daß keiner von denen, die sie führen sollten, es wagte, ihnen seine Bedrängnisse zu enthüllen und in der Not um Rat zu fragen. Mit Gebet stand man auf, mit Gebet aß man, schlief man ein, und alles das nicht nach dem milden Zwang herzlicher Frömmigkeit, nein, unter der mürrischen Stirn eines starren Gebotes. Eine Zigarre zu rauchen, war eine grobe Ausschreitung, ein Glas Bier zu trinken Völlerei, mit einem Mädchen zu sprechen Unkeuschheit. Nur jene, deren Blick immer in Demut gesenkt blieb, deren Lippen stets in stummen Gebeten zitterten, standen im Schatten der Huld. Es war eine militärische Drillanstalt der Gottseligkeit, ein Kloster mit den Formen der Kaserne, und deswegen gehörte sie damals zu den Musteranstalten. Aber wie es hier war, ist es wohl in den meisten Lehrerbildungsanstalten: Man erzieht die Jünglinge zum Servilismus, darum sind auch nirgends die Bedientenseelen so zahlreich wie in Preußen.

      So kam es, daß ich mich im Seminar gar bald recht unbehaglich fühlte, nur mühevoll den instinktiven Widerwillen gegen den Beruf unterdrücken und den Entschluß aufrecht erhalten konnte, meiner Eltern wegen darin Tüchtiges zu leisten. Das Versprechen an meinen Vater bewahrte mich indes vor jeder Untreue. Mit finsterem Mut stürzte ich mich in die Arbeit. Die Furcht, aus Unachtsamkeit oder Schwäche in gemächlichen, aufgelösten Stunden über das Schicksal unserer Familie zu sprechen, schloß mich auch hier von meinen Mitschülern ab, so daß ich zu keinem in ein anderes als rein oberflächliches Verhältnis trat. Zudem hatte ich in den tollen Knabenjahren all jene kleinen Räubereien am Unerlaubten genossen, die meine Kameraden nun zu heimlichen Unternehmungen anregten, verbotene Zigarren. Bier, eben alles bis zu Liebschaften. Ich fand es fade, über solchen Krimskrams ein langes und breites zu sprechen und ging einsam, abseits meinen Weg, auf dem mich wohl manchmal Schwermut überfiel, wenn ich sah, wie er gar so fern von Heiterkeit und Sonne führte. Außerdem legte das Leben im Elternhause noch manche geheime Last hinzu. Denn es rieb sich in jener Reizbarkeit auf, mit der der Leidende den Leidenden erträgt. Kurz, ich erlag oft einem Gefühl tiefster Verlorenheit. Dann machte sich wohl eine Helle über mir auf, und die Erinnerung an jenen Ostersonntag kam, da ich neben dem alten Willmann über mich und alle Berge hinaus in das Abendrot geschwärmt hatte. Ich brachte es aber lange nicht über mich, wieder an das Pförtchen über der Torwölbung des Turmes zu klopfen, weil ich sorgte, mein Vater könne die Besuche bei dem Greise als die Absicht empfinden, sein Unglück an Fremde zu verraten, und beschränkte mich darauf, von meinem Fenster aus den alten Wartturm sehnsüchtig anzuschauen und auf meinem Wege zu und von der Anstalt hinaufzugrüßen.

      An einem Sommerabend saß ich aber doch wieder auf dem Bänkchen hinter dem Mauerkranze an der Seite des einsamen Alten, anfangs stumm wegen der Untreue gegen meinen Vater und bedrückt über das lange Ausbleiben. Allein der Gütige wußte mit gleichmütigem Geplauder meine Beklommenheit zu heben und mit Warten und gelassenem Führen meine Verschlossenheit zu lösen, daß sich gar manches meiner geheimen Sorge in meine Worte verirrte. Erleichtert schlüpfte ich dann wieder unter dem Schutze des Dunkels hinter meinen Tisch und genoß die doppelte Freude, mich gegeben und bewahrt zu haben. Diese, bei einem Jünglinge meines Alters seltene Kargheit und Keuschheit war es wohl, wenn auch nicht allein, daß mich der Greis mit immer größerer Freude, zuletzt mit offener Liebe empfing, als sei ich nicht eines Fremden, sondern sein eigener Sohn. Bald gab es nur wenige Tage in der Woche, an denen ich nicht, sei es auch nur auf Augenblicke, zu dem Alten hinaufsprang. In demselben Maße, wie mich die Zurückhaltung etwas verließ, erwärmte sich der Alte an meiner leidenschaftlichen Not und meinen ungebärdigen Schmerzen für sein Leben, dessen Unruhe weit von ihm abgerückt war, wie hinter Bergen schlafende Städte stehen. Es dauerte Wochen, ehe er dies und jenes von seinen Geschicken in das Gespräch einflocht, und immer streifte er nur mit einigen Worten vorüber.

      An einem Oktobertage aber verlor er sich tief an seine Erinnerungen. Der Herbst jenes Jahres war ungewöhnlich lang, mit immer wolkenlosen Tagen und einer Lichtfülle, der nur die sommerliche Glut fehlte. Und der Sonntagnachmittag, an dem ich hinter der Mauerzinne neben dem Greise saß, schien der Höhepunkt der herbstlichen Schönheit zu sein. Die Luft flimmerte im Licht. Über den Dächern unter uns zitterte es wie von unzähligen leuchtenden Flämmchen. Die Stadtmauer mit ihren verschiedenfarbigen Steinen hing wie bebend neben uns in der Höhe und sah nicht aus wie etwas Festes, sondern wie ein riesiger, uralter Teppich, dessen verwittertes Muster noch einmal schwach leuchtete. Die gelben Grasbüschel zwischen den Steinen muteten an wie goldene Fähnchen, die auf das morsche Gewebe gesteckt waren. Weit hinaus dieselbe fürchterliche Schöne, als verbrenne die ganze Natur in tausend bunten Flammen. Der Florianiberg loderte im gelben Feuer der Ahornkronen, in der Bronzeglut des Buchenlaubes und in dem wehenden Funkenregen der Birken. Diese bunte, entzückende Vernichtung zog alle Täler entlang, glomm um jede Hütte und breitete sich aus, soweit der Blick über die wellige Ebene flog, bis an die Berge, die in die Luft dampften wie silberblaue, mächtige Rauchwolken. Auf den Telegraphendrähten saßen Stare und quirlten ihr schrilles Pfeifen in die feiertägliche Stille. Meisen geigten ruhlos aus allen Gürten. Von Zeit zu Zeit klangen die Glocken der Ähren von den Türmen und verschollen traumhaft gleich den Paukenschlägen einer fernen, grandiosen Festmusik.

      Dieses alles genossen wir miteinander, und gerade der Alte war unerschöpflich in Bildern, die tief in den Zauber des Herbstes fühlten, dieses Abendrot des Jahres. Plötzlich faßte er meine Hand und sagte: »Weißt du, mein lieber Junge, du bist doch nicht böse, daß ich so spreche?«

      Ich schüttelte mit glücklichem Lächeln den Kopf und erwiderte den Druck der alten, bebenden Hand herzlich.

      »Weißt du,« sprach er, »wenn man als alter Mann so sitzt und sieht, so fühlt man, daß einen das Leben doch nicht umsonst getrieben und gejagt hat, und daß das Dasein des Menschen doch einen hohen Sinn hat, der freilich anders ist als der, welcher die Menge führt.«

      Ich fragte, wie er das meine. Er sann einen Augenblick und bewegte dann abwehrend den Kopf. Nach einer Weile stillen Überlegens begann der Greis aus seinem Leben zu erzählen.

      Er stammte aus einem jener kleinen Häuser am Stadtgraben, die furchtsam, enganeinandergeschachtelt den Uferrand der Neiße entlang stehen

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