Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Die Auflösung, die damals ganz Europa ergriffen hatte, die Unruhe und Zerrüttung seiner Familie steckte ihm im Blute, und als er es in seinem Handwerk zur größten Geschicklichkeit gebracht hatte, riß es ihm die Augen von der Lupe weg und lenkte sie in die große Welt. Ein abenteuerlicher Wagemut trieb ihn aus der Metternichschen Stickluft überall dahin, wo ein Volk sein Leben gegen die Unterdrückung für die Freiheit einsetzte. Er kämpfte mit den weißen Burschen gegen die Engländer; rannte hinter dem Revolutionsruf des alten Lafayette durch die Straßen von Paris, vagabondierte mit den Carbonari in Italien umher, diente im Solde des Schweizerischen Siebener-Konkordats und exerzierte endlich unter Bem, schon ergraut, in seinem letzten verzweifelten Freiheitsdrange, vor den Toren Wiens. Aber auch hier brach die Sache seiner heiligsten Hoffnung durch den Kleinmut, die Uneinigkeit und aufgeblasene Torheit der meisten Freiheitshelden zusammen. Windischgrätz fegte sie von den Gassen und kehrte sie mit eisernem Besen in die Kerker. An dem Tage, an dem Blum erschossen wurde, hockte Willmann mit anderen in der verrammelten Stube eines Hinterhauses auf der Kettenbrücke, finster, verbittert und hörte schweigend dem Zank und den kindischen Prahlereien zu, mit denen die Mutlosen ihre geheime Furcht zu verbergen trachteten. Als der Tag glücklich vergangen war, ohne daß ein Gewehrkolben gegen die Tür geschmettert hatte, in der Nacht, wagten sie endlich aufzuatmen. Nun schleppten die Weiber Essen und Wein aus der nächsten Taverne, und es begann ein übermütiges, unbesorgtes Schmausen und Trinken, wie wenn alles auf das Beste gelungen sei. Da schrieb Willmann mit zornbebendem Finger das Wort »Dreck!« in den Staub auf den Deckel eines Klaviers und schlich hinaus. In dieser Nacht kam ihm die Erkenntnis, daß der Mensch sich erst innerlich frei machen müsse von Wahn, Niedrigkeit, Enge und Irrtum, dann fallen endlich alle äußeren Fesseln von selbst. Nun begann eine Periode innerer Erlebnisse, während er mit Anspannung aller Kräfte für die Sicherstellung des nahenden Alters zu sorgen begann. Er wandte sich dem Maschinenbau zu und sah sich nach zwei Jahrzehnten im Besitz eines Vermögens, das ihn aller Not überhob.
»Nun sitze ich«, so schloß er seine Erzählung, »an dem Ort, von dem ich ausgegangen bin, ledig der meisten Fesseln. Die Leute kennen mich nicht, und ich begreife selbst oft nicht, wer ich bin. Aber wenn Abende glänzen, wie der unter uns, an denen der Tag so bunt und heiter zu Tode kommt, dann fühle ich mich geborgen in meinen Augen, die durch tausend Erblindungen in wunscharme Klarheit gerettet wurden.«
Dann erhob er sich und schaute lächelnd auf das Gewimmel der Spaziergänger, das unter dem Turm verschwand und aus der Torwölbung quoll. Als er sich wieder zu mir kehrte, fragte ich: »Herr Willmann, und welches ist der Sinn des Lebens?«
Da antwortete er mit gütigem Ernst: »Mein Junge, das darfst du fragen; aber ich darf nicht antworten. Noch nicht. Vielleicht später. Vielleicht auch nicht.« – Traurig darüber, daß mich der Greis doch nicht seines ganzen Vertrauens würdigte, ging ich davon.
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Ich hätte müssen kein Jüngling sein, wäre des alten Willmanns Erzählung spurlos an mir vorübergegangen. Aber die tollen Abenteuer des greisen Revolutionärs warfen meine Phantasie doch nicht zu sehr aus der gewohnten Bahn, denn unser ganzes Haus war ja voll von, wenn auch siecher, Unbeugsamkeit, und in mir selbst kochte der Freiheitsdurst wie eine verschüttete heiße Quelle. In jener Zeit drangen auch die ersten Nachrichten von dem Schicksal meines Großvaters an mein Ohr. So kam es, daß ich in manchen Augenblicken träumte, mein Ahne sei gar nicht in dem Kampf bei Waghäusel umgekommen, sondern habe sich unter fremdem Namen seiner Familie nachgeschlichen und sitze nun als der Alte vom Turm in dem Schutze einer grotesken Vergangenheit uns nahe und wache über unser Wohl. Seltsam war ja auch Willmanns fast väterliche Zärtlichkeit zu mir, die noch immer zunahm. Wenn ich aber mit neugierigen Fragen um sein Geheimnis schlich, wurde er plötzlich der fremde Wann, fern, hart, sogar feindselig. Tage lag dann Schwermut und Kummer über ihm, und sein Blick wirkte wie eine schmerzvolle Drohung. Hatte er mich gründlich verscheucht, so blühte nur seine Güte doppelt rührend, und ich fühlte gar bald, daß die kleinen Überraschungen, mit denen der Greis mich neckend erfreute, den Zweck hatten, den Nachhall seiner Härte schneller in mir zu verwischen.
Mit dem Einsetzen der kalten Jahreszeit brach unser Verkehr ab. Der Schnee duldete kein Verweilen hinter dem Mauerkranze, und mit derselben heiteren Festigkeit, wie am ersten Tage, verwehrte mir der wunderliche Alte den Eintritt in sein niedriges Stübchen. Er tat das mit vielen gewaltsamen, humorvollen Gründen, hielt mir in der hohen Finsternis der plumpen Spitze eine Art feierlicher Rede, gab mir allerlei gute Räte für den Winter und verabschiedete sich, unvermutet in schweren Ernst verfallend, mit ein paar bebenden Worten und dem herzlichen Druck seiner kalten, zitternden Hände. Er schob mich eilig durch das Pförtchen und kreischte sofort das Schloß ein. Verblüfft stand ich unter dem Vordächlein und hörte Willmanns Schritt mühsam, wie schmerzvoll, der Stube zuschleichen und zögernd verschwinden. Der Gedanke, bis zum Frühjahr allein sein zu müssen, kam mich recht hart an, denn all meine Kümmernisse und Aufregungen hatte ich zu dem lieben Greise getragen, damit er sie in mir schlichte und glätte. Daß er mir die Erlaubnis erteilte, bei einem Anlaß von höchster Wichtigkeit an seine Tür klopfen zu dürfen, erschien mir als ein gar magerer Trost; denn wo sollte das Überschlimme herkommen, da ich über unsere Familie noch immer mir Schweigen auferlegte und es auch fernerhin tun wollte. Aber der Fall trat eher ein, als es mir lieb war.
Wie in allen Seminaren bestand auch in Heisterberg die Einrichtung, den Zöglingen zweimal im Jahre, um Weihnachten und um die großen Ferien, Stipendien zu verabreichen, deren Höhe von der Bedürftigkeit, dem Fleiß und der Führung des einzelnen abhängen sollte. So sagte wenigstens unser Direktor, der Doktor Bode, der einen gestutzten Schnurrbart wie ein Kanzlist und einen sokratischen Hängebauch sein eigen nannte und außerdem die Gewohnheit besaß, vor seinem Eintritt ins Klassenzimmer stets erst die Mütze zur Tür