Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Als der Frühling über unsere Stadt sank, war aus meinem blühenden Kinderglauben eine Schar grauer, sonnenloser Schemen geworden. Ich hütete sie sorgsam aus Klugheit an meiner Oberfläche und schob die gewohnten religiösen Worte wie Marionetten am Draht meines Willens aus und ein. Drunten in mir, fern, lag das neue Erkennen und Fühlen, ein geheimer Garten, mein Hoffen, mein Frieden. Diese seelische Zweiteilung hatte sich ohne mein Zutun vollzogen und erfüllte mich anfangs mit geheimer Freude. Je mehr aber die lebendige Welt meiner Wesenheit in die Tiefe sank, je mehr die alten Straßen meiner Empfindungen, Betrachtungen und Urteile verödeten, desto peinigender wurde dieser Zustand. Ließ auch Willmann, um die seelische Gefahr zu mildern, in die mich seine systematische Zerstörung alter Begriffe brachte, dann und wann einen Zipfel des Glaubens sehen, den er sich erlebt und erarbeitet hatte, seine gelegentlichen Bemerkungen waren zu karg, eine sichere Vorstellung seiner Anschauung zu ermöglichen. Wenn ich es mir heut' überlege, so war ihm Gott die unvorstellbare Allgewalt, die alles bildet, durchdringt und erfüllt. Nicht als etwas Fremdes, Hineinwirkendes, sondern der tiefste Grund und Inhalt jedes Dinges, jeder Wesenheit. So wandelte seine Seele durch die Natur und die Schicksale der Menschen wie zwischen hohen, tiefsinnigen Götterbildern hin. Liebe, Güte, Barmherzigkeit; alle süße, tiefe Sorgsamkeit des Herzens bildeten ihm den nur uns Menschen eigentümlichen Adel. Das war ein zu hohes, weißes Firnenlicht für mich, der ich damals noch zu tief in der Idolatrie meines alten Glaubens, in der sinnlichen Not eines engen Lebens verstrickt war; eine zu ferne und späte Weisheit, als daß sie hätte vollen Eingang in meine junge Seele finden können. Viele selige Ahnungen, Träume mystisch gestillten Verlangens, geheimnisvolle Sicherheiten waren heimatlos geworden in mir, bedrängten mein Inneres als dumpfe Beklemmungen und warfen es in Schweifen und Suchen hin und her
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Da schwammen die blauen Inseln des Frühlingshimmels wieder durch das weiße Gewölk heran; die Grasbüschel zwischen den Steinen der Stadtmauer fingen grünes Feuer, und eines Tages blühte gar aus dem Fenster der blonde Mädchenkopf, den ich in der ernsten Winterarbeit fast vergessen hatte. Wie das Gesicht einer versunkenen Welt, mir noch lebendig gerettet, tauchte sie vor mir auf, und das Spiel scheuer Zärtlichkeit zwischen uns begann aufs neue, aber süßer und etwas voller durch inneres Vertrautsein, kühner und deutlicher unter dem Einfluß der steigenden Sonne. Meine Unruhe fand ein Ziel, meine Friedlosigkeit Erfüllung. Träume und Ahnungen webten und sangen her und hin. Im Feuer meines Schwärmens ertrug ich jetzt sogar das Wissen, daß das Mädchen ein Mensch sei, Wally Göppert heiße und bei ihrem Schwager, dem Kaufmann Pausewang, wohne. Ich schrieb sogar Briefe an sie, die ich anfangs wieder vernichtete und dann tagelang nur verborgen und ängstlich des Mädchens Anblick genoß, weil es mir war, als müsse sie es erraten, daß ich mich an ihr vergangen habe. Endlich fand ich den Mut, diese kalligraphisch geschriebenen Epistel an sie zu senden, und obwohl ich keinen Namen daruntersetzte, verursachte mir dann jeder Briefträger, der auf unsere Haustüre zusteuerte, Herzklopfen. Wally lehnte nach solchen Ergüssen länger aus dem Fenster, und vermied sie auch, nach mir herunterzusehen, so hörte ich dafür aus der Tiefe des Zimmers ihre weiche Altstimme glücklich singen, wenn sie sich zurückgezogen hatte, und nahm es als ihre Antwort auf.
In dieser Verfassung befand ich mich, als ich zu Anfang des neuen Schuljahres als einer der ersten auf dem langen Korridor eine Tür weiter trabte. Voll eines neuen Mutes, gerettet und zugleich tiefer gefährdet, nahm ich Platz in der höheren Klasse.
Mein Gesicht war in jener Zeit blaß und hohlwangig und meine Schweigsamkeit herb und fast bitter. Die Mitschüler legten mir die Wortkargheit als Hochmut aus und zielten sogar mit versteckten Hänseleien nach mir. Dann entglitten mir manchmal die Zügel der Selbstbeherrschung, und ich geißelte sie in Ausdrücken, über die ich nachträglich erschrak, weil sie dies und das von meinem geheimen Wissen verrieten. Bei den Lehrern verlor ich jede Sympathie. Sie verstanden mich nicht, darum mißtrauten sie mir und erblickten vielleicht in meiner Blässe und dem Hang zur Einsamkeit die Merkmale verborgener Sünden. Wenigstens sprach Doktor Bode einst von den Gefahren des Alleinseins, der kindlichen Fröhlichkeit und den frischen Farben der Wangen als den Kennzeichen reiner Herzen und unverdorbener Seelen.
Und das sagten die, die so wenig das Amt eines gütigen, weisen Jugendführers erfüllten und mit schuld an der Not und Gefahr meines Lebens waren. Der Zorn tropfte oft heiß in meinen Drosselknoten, aber das Mitleid mit meinen Eltern und das Versprechen an den alten Willmann duckten mich immer wieder unter.
Eines Tages aber fiel doch der Funken in die geheime Zündmasse. Das Jahr war schon weit in den Sommer gerückt; das reifende Korn zitterte in der Hitze, und schon der Morgen kochte. Wir saßen in jenem Klassenzimmer, dessen Fenster auf den grellbesonnten Sand des Hofes hinausgehen. Sie waren geöffnet, die grauen Drellvorhänge heruntergelassen, und, obwohl es doch die erste Stunde war, hingen die meisten schon mehr in den Bänken. Pater Neumanns Stimme klang matt und undeutlich, als komme sie aus einem tiefen Korbe. Lange redete er so monoton und zerkaut; von Zeit zu Zeit streckte er sich und stieß einige Sätze schrill und gereizt heraus. Dann ruckten sich die Zusammengesunkenen auf und stellten den Kopf eine Weile aufrecht auf den steifen Hals. Aber wenn der schlecht vorbereitete Präzeptor wieder nichts bot als die Langweiligkeit wirrer Umschweife, krochen die Köpfe wieder enttäuscht zwischen die Schultern. Der Vortrag stolperte wie ein schlechtgeleitetes Gefährt auf unwegsamer Straße weiter, und mir bereitete es ein Vergnügen, zu beobachten, daß der Pater immer erregter wurde und manche Worte geradezu wieherte. Ich saß aufrecht da und sah ihm unverwandt in die Augen, um ihn noch mehr zu verwirren. Oft senkte er die Stirn, drückte sein Haarmäuschen auf den blanken Kopf und las unter dem Schutze der Hand große Strecken aus dem aufgeschlagenen Buch. Kam er dann wieder zur Höhe, so gab ich meinen Augen einen verweisenden Glanz und hakte mich mit dem Blick wieder fest. Ich geriet in die beste Stimmung. In dieser Weise sprach er vom Primat Petri und schleppte unter Schweiß aus dem Dogmengestrüpp allerhand Beweismittel zusammen, zu denen ich für mich kritische Fußnoten machte. Endlich gelangte er zu den Zeremonien der Papstwahl und betonte breit und wuchtig, daß die Kardinäle im Konklave nur unter direktem Einfluß des heiligen Geistes das Oberhaupt der Kirche wählen.
Bei diesen Worten muß ich wohl gelächelt haben, denn er hielt im Vortrag inne, fixierte mich mit kalter Blässe und rief mir dann schrill zu: »Nun, Faber! Sie – Sie – Sie wagen zu lachen?«
Die ganze Klasse zuckte wie unter einem Peitschenhieb aus halbem Traume, und ich wußte vor Verdutztheit nicht gleich, was er von mir wollte.
Endlich hatte ich mich gefaßt und sagte etwas verlegen: »Verzeihung, ich glaube nicht gelacht zu haben!«
»Glauben! Glauben Sie, wo es notwendig ist! Hier sind Tatsachen! Sie haben gelacht«, fuhr er weiter auf mich los.
»Bitte, wenn es so ist, so geschah es ohne meinen Willen«, antwortete ich.
»Was? Freche Ausflüchte! Nun lügen Sie noch vor Ihren Mitschülern!« Seine Worte stürzten