Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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eines preußischen Beamten und den unbeholfenen Manieren eines Stubengelehrten. Ich hatte keinen Grund, an seiner Versicherung zu zweifeln. So bemühte ich mich tapfer um ein großes Stipendium und saß halbe Nächte bei den Büchern. Vor Jugendtollheiten hielt mich der ernste Geist ab, den unsere trüben Familienverhältnisse und die Erfahrung in mir geboren hatten. Indem war ich ohne Geld, denn bei uns war nun schon oft Schmalhans Küchenmeister. Wenn ich so abends die Mutter, mit scheuem Blick zum Vater hin, die Salzkartoffeln und das trockene Brot auf den Tisch tragen sah, wenn ich bemerkte, wie der Gebeugte geringschätzig die Speise musterte, mit Knirschen zulangte, mit bitterem Lächeln aß und dann empört aufstand, indem er das Messer auf den Tisch hieb, wenn all die Bitterkeit, Trauer und Wehmut mich bestürmten, dann kam ein unendlich süßes Glücksgefühl über mich bei dem Gedanken, daß ich einst an das engbrüstige Tischlein treten und vor den Augen der lieben Gebückten einen klingenden Reichtum hinstreuen würde: Lacht, Vater und Mutter, lacht!

      Bei der ersten Ausschüttung, drei Monate nach meinem Eintritt ins Seminar, wurde mein Hoffen enttäuscht. Ich erhielt nur das Schulgeld erlassen, nicht einen roten Heller in die Hand, trat an den Tisch neben dem bärbeißigen Lehrer, dem die Verwaltung der Anstaltskasse übertragen war und quittierte mit etwas affektierter Kühle. Das Fehlschlagen meiner Erwartung regte mich auch wirklich nicht sehr auf, denn ich tröstete mich damit, daß man mich erst beobachten wolle, um dann doppelt zu geben, wenn man sich von der Grundlosigkeit des Verdachtes überzeugt hatte. Ein Verdacht bestand, denn es war mir bekannt, daß Doktor Bode ein Studienfreund des Stadtpfarrers Zimbal war und die beiden Männer die Beziehungen, wenn auch etwas gedämpft, noch aufrecht erhielten. Außerdem verkehrte unser Religionslehrer Neumann als gerngesehener Gast auf dem Pfarrhofe, der im Laufe der Jahre, und besonders seit Herr Zimbal in den Reichs- und Landtag als Abgeordneter gesandt worden war, den Mittelpunkt der klerikalen Politik unserer Gegend bildete. So oder so. Der Geistliche, wenn er zum Pfaffen wird, ist unversöhnlich wie eine alte Jungfrau, und der Pfarrer Zimbal musterte mich bei Begegnungen auf der Straße noch immer mit der alten, kühlen Härte, mit der er mich armen Jungen einst von seinem Flur vertrieben hatte. Es ist auch nebensächlich, wie seine Abneigung gegen mich das Lehrerkollegium angesteckt hat. Die Tatsachen haben bewiesen, daß ich mit meinem vorschnellen Verdacht nicht auf unrechter Fährte gewesen bin.

      Bald sollte ich das erfahren. In Heisterberg war es üblich, daß die Seminaristen in der Schulmesse, die allmorgendlich in der Aula des Seminars abgehalten wurde, dem Geistlichen am Altar zu dienen hatten. Des Sonntags war für die Schüler ein feierlicher Gottesdienst in der Pfarrkirche. Dann mußten die Seminaristen, mit bunten Röckchen und weißen Hemdchen bekleidet, denselben Dienst versehen. Es war putzig anzuschauen, wenn hochgeschossene Jünglinge in dieser kirchlichen Tracht, die eigentlich für Knaben berechnet war und den jungen Männern kaum bis an die Knie reichte, vor dem Altar hin- und herknicksen mußten. Als ich das erstemal das sah, befiel mich Scham, denn ich war einer der Größten meiner Klasse und hätte in dieser Montur unzweifelhaft eine vollkommen lächerliche Figur abgegeben. Darum beschloß ich, diese Ehre auf jeden Fall von mir abzuwenden. Mein Hintermann in der Klasse, der Sohn eines Dominialschäfers, von Geburt aus in jeder Art von Unterwürfigkeit bewandert, fand sich leicht bereit, meine Rolle als Ministrant zu übernehmen, wenn mich die Reihe traf und freute sich mit seinem glucksenden Lachen recht herzhaft in sich hinein, weil es ihm vergönnt war, ohne Gefahr auch einmal ein Abenteuer zu bestehen. So ging es an den gelben Bäumen vorbei in den Winter hinein, und ich hatte in all meinen geheimen Lebensnöten diese Verfehlung beinahe vergessen. Eines Morgens, in der Katechismusstunde – es war etwa vier Wochen vor Weihnachten – rief mich der Religionslehrer mit eigentümlich eingekniffener Stimme auf, daß ich das gelernte Pensum hersage; ich fuhr in die Höh', und als ich es wie verhaltenen Zorn in seinen langen, geraden Backen hinunterlaufen sah, richtete ich mich noch straffer auf und packte mit vollem Blick in sein blasses Gesicht. Dann begann mein Vortrag. Pater Neumann senkte seine hohe Stirn so tief, daß ich die hintere Seite seiner großen, abstehenden Ohren betrachten konnte, und das Haarhäufchen, das wie eine schwarze Maus mitten auf seinem blanken Schädel kauerte, kam in Gefahr, herunterzurutschen. Nun hatte ich geendet. Der Religionslehrer tippte noch einige Male mit dem Bleistift auf das Katheder und richtete sich dann auf. »Hmja, Faber, gut«, sagte er und lenkte jetzt seine dunklen Augen, die wie zwei große Stanzlöcher aussahen, auf mich. »Sie haben gut memoriert – und nicht ministriert. Sie sind diese Woche an der Reihe, lassen sich aber vor dem Altar nicht sehen, jetzt nicht, und, erinnere ich mich recht, früher auch nicht.« Ich sagte ihm meinen Grund, schlicht und furchtlos. Pater Neumann schlug seinen Bleistift leicht auf und stieg mit dürren, umständlichen Beinen vom Katheder. Als er sein Haarmäuschen auf dem Kopf aufgedreht hatte, war er wieder ruhig in seinem langen Rock und begann, in dem Raum vor den Bänken auf- und niederwandelnd, von der hohen Würde und heiligen Ehre des Ministrierens einen langen Sermon, ja, verstieg sich soweit, diesen Dienst ein Werk zu nennen, um das die Engel im Himmel uns beneiden. Ich hörte aufrecht und ernst zu. Dann stieg er wieder auf seinen Kathederstuhl und fragte nach gepreßtem Aufatmen: »Und was haben Sie nun zu sagen?«

      »Ich habe den Danske ersucht, mich zu vertreten«, antwortete ich. Er schob die Brauen über der Nasenwurzel zusammen und hieß mich ruhig setzen.

      Alles war so ganz im Ton einer beiläufigen Unterhaltung verhandelt worden, daß alle meinten, die Sache sei erledigt. Es kam aber anders ...

      Acht Tage später sah ich zwischen der dritten und vierten Abendstunde, also nach fünf Uhr, unter meinen Mitschülern in der Klasse. Da erschien der Hilfslehrer Mieding und rief mich ins Konferenzzimmer. Dort traf ich das Lehrerkollegium vollzählig um den langen, grünen Tisch versammelt, alle stumm, pfahlsteif, voll drohender Würde. Mir blieb der Atem in der Brust stehen, aber ich drückte mir die Nägel in die Hand und dachte: Kopf hoch!

      Da fuhr auch schon Doktor Bode so ungestüm empor, daß die Knöpfe seiner Weste an der Tischkante rasselten.

      »Sie haben die Anstaltsgesetze auf das gröblichste verletzt!« schrie er ohne Umschweife mit erzwungener Aufregung, schilderte dann mein Verbrechen, bewies mir Ungehorsam, Hartnäckigkeit und überlegten Trotz, da ich nach der eingestandenen Schuld weder Reue gezeigt, noch auch, wie es sich doch gehöre, Herrn Pater Neumann um Verzeihung gebeten habe. Eine Rüge und Verlust des Stipendiums war meine Strafe. Ich traf auf keinen milden Zug bei all meinen Richtern.

      Mit fast schreiender Stimme bat ich um einige Worte zu meiner Verteidigung, denn es schnürte mir die Kehle ein.

      Doktor Bode, der gute Mann, schoß in höchster Wut wie ein Bolzen wieder herauf und brachte nichts heraus als ein mehrmaliges: »Raus!« Alle markierten Entsetzen, und der dröhnende Baß des bärbeißigen Kassierers überschlug sich wegen meiner »bodenlosen Frechheit«. Der eilige, kleine Mieding sprang auf mich zu und fragte höhnisch, ob er mir die Tür öffnen solle. Finster und feindselig sagte ich: »Bitte!« Die Tür flog auf, ich machte Kehrt und war draußen auf dem Korridor. Der war voll Rauschens wie von unsichtbaren Wassern, die Lampen schwirrten wie gelbe Vögel hin und her. Ich wartete, bis alles still war, die Lichter wieder sicher an den Wänden glühten und betrat dann aufgereckt, mit erzwungenem Lächeln, das ich kalt und verzerrt wie eine Fratze im Gesicht fühlte, das Klassenzimmer. Niemand wagte zu fragen, was es gegeben habe. Ich nahm meine Stirn in die Hand und machte mich über mein Buch.

      So war es also wieder nichts mit der Unterstützung, und ich hatte es mir schon ausgemalt, wie ich meine Eltern zu Weihnachten überraschen wollte. Ein kleines Christbäumchen, über und über mit blitzenden Silberstücken behängen, sollte unvermutet im Dämmern vom Werktisch meines Vaters aufleuchten.

      Noch während ich nach der letzten Unterrichtsstunde aus dem Seminar nach Hause ging, fraß die bittere Trauer über die Vernichtung meiner Hoffnung an mir. Plötzlich überfiel mich eine Stille, die war voll geheimen, sarkastischen Frohlockens; ich war nicht imstande, mich ihr zu entziehen. So, als ob die Lehrer, durch das Böse, das sie mir auf Drängen des Paters Neumann angetan, mich von sich losgebunden und mir die ganze Freiheit wiedergeschenkt hätten, war es mir. Ein bitterer Jubel, den ich vorderhand nicht begriff, lag in mir, schwang meine Beine zu trotzigem Schreiten

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