Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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»Mutter!« rief ich sie leise an, um den Vater nicht zu erwecken. »Mutter!«
Aber sie starrte wie abwesend nur immer den Gang hin und fuhr fort, beschwörend zu beten.
Endlich, beim nochmaligen Ruf schrak sie herauf und fragte erschöpft: »Was hat's denn? – Ach so, du bist's! –« Dann nickte sie ein paarmal und lächelte. »Siehst du,« flüsterte sie dabei, »jetzt hab' ich den Elenden in meine Gewalt gekriegt, und nun laß ich ihn nicht mehr los, bis er – bis er – ganz – ganz – –« da begann sie zu wanken. Ich sprang hinzu und führte sie geräuschlos auf das Sofa in der Wohnstube. Dort sank sie auf den Tisch und begann leise und weh zu weinen. Ich hielt ihre zuckenden Hände und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Dann küßte ich ihre Stirn, die welk und kalt war, und stumm ging jedes auf sein Lager. – – – – – – – – – –
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Am folgenden Ostermorgen weckte mich Posaunengetön, und als ich den Vorhang meines Fensters ein wenig beiseite schob, sah ich eine Prozession von Männern in der milchweißen Frühe den Burgberg hinaufgehen. Die blauseidene Fahne mit dem Bilde des heiligen Josef in der Mitte wogte, zum Greifen nahe, an mir vorüber. Vom Turme der hohen Kirche jubelten alle Glocken. Die Männer kamen von Emmaus. Schon vor Tage hatten sie sich aufgemacht und waren im Dämmern den Florianiberg hinaufgestiegen, um in der kleinen Kirche unter den alten Linden den Heiland zu suchen und mit ihm zu reden, wie es die Jünger der Bibel getan hatten, nachdem der Herr von ihnen gegangen war.
Sie zogen regellos vorbei, von keinem Zwang als dem ihres hohen Alters beengt und gebunden, und ihre Schritte klangen hart vor Schwäche oder schlürfend vor Erschöpfung. Den meisten zitterte der Rosenkranz in den welken Händen. Nur manche sangen, den eisgrauen Kopf geneigt, das Lied gegen die Erde, das die Spielleute an der Spitze des Zuges wie einen Siegesmarsch an den Mauern der ruhenden Häuser emporschmetterten. Unter all den Männern, die von den Jahren gedorrt und gedemütigt waren, schritt nur der alte Willmann in ruhiger Kraft hin. Seine weißen Locken wehten auf dem Rücken, der breite Bart bebte von dem sicheren Gange. Ohne zu singen oder zu beten, hob er seinen Kopf aus der Mitte der Geneigten und schaute mit dem Ausdruck stiller Freude nach dem kleinen Fenster seiner Klause empor, das hoch droben aus der Wackenmauer des Wartturmes ins weiße Morgenlicht blinzelte. Darauf duckte sich das Gedröhn der Hörner und Posaunen und der Mummelgesang der Greise in die Torfahrt, hob sich gedämpfter wieder in die Höh' und wehte dann leiser und leiser über den Ring der Kirche zu, deren Glocken noch einmal stark zu jubeln begannen. Wie erstickt vor Glück brachen sie dann jäh ab, und bald war von dem Liede nichts mehr übrig wie ein Zittern im Licht des jungen Tages.
Noch lange nachher lag ich in dem schmalen Bette meines Stübchens und kostete bei geschlossenen Augen das Schweben einer silbernen Helle um mich. Meine Seele, die spät in der vorigen Nacht an dem düster-schrecklichen Leben des Tischlers Rinke und dem erschütternden Anblick meiner Mutter endlich im Schlaf erblindet war, lag nun in mir, als habe sie nie etwas beschattet und verschüttet. Ich weiß es wohl, nicht die Segnungen der Kirche durch Glockenruf, Prozession und Feiertagsstimmung hatten das Tor zu meinem Lebensmut wieder aufgesprengt, sondern es war der geheimnisvolle Strom gewesen, der aus dem weihen, stillen Antlitz des Mädchens am Fenster in der Stadtmauer in mich geflossen war und den heiligen, unberührten Kräften meiner übertrümmerten Jugend zum Ausgang in mein Leben verholfen hatte. Jedenfalls wirkte das Vertrauen zu mir nach dem monatelangen Siechliegen solche Wunder, daß ich die Kraft und den Willen in mir fühlte, das zerstörte Dasein meiner Eltern wieder zusammenzufügen und ins Licht zu heben. Diese Stunde in der Osterfrühe gehörte zu jenen seltenen Augenblicken großer Erhobenheit der Seele, in denen die vielverschränkten Wirrnisse des Lebens sicher in die Straße zu großem, wenn auch fernen Siege münden. Als ich unter der Decke hervor in meine Kleider sprang, stand der Entschluß in mir fest, dem erwählten Beruf treu zu bleiben und es zu etwas Tüchtigem darin zu bringen, um den Ruf unserer Familie wieder aufzurichten und meinen Eltern einen glückvollen Lebensabend zu bereiten. Kampf! Kampf! Mit dem Messer zwischen den Zähnen und kein Nachgeben und Zucken! In mir irgendwo aber stak ein Fensterlein mit lichten Scheiben. Dahinter blühte ein stilles, gutes Mädchengesicht zu mir her. Das redete allerlei Süßes und Betörendes und verlieh meiner ernsten Absicht die herzliche Frohheit.
Mit sicheren Schritten betrat ich durch die sperrangelweite Tür die Wohnstube, die festtäglich geordnet voll des Frühlichtes war. Nur der süßlich-dumpfe Geruch der Cichorie schwamm darin wie der heimliche Atem des Kummers. Der Vater stand in weißen Hemdärmeln am Fenster, die schwarze Seidenbinde um den Hals, glattrasiert und blank gescheitelt. Die Mutter bückte sich eben über einen Topf am Herd. Bei meinem frohen Einbruch fuhren beide herum. Ich wünschte ihnen, der Sitte unseres Hauses gemäß, »gesegnete Feiertage«, tat das aber mit einer so hellen Stimme und einem so freien Gesicht, daß mein Vater ungläubig seine Hand in die meine legte und die Mutter ein fast bestürztes Gesicht unter meinem herzlichen Kuß bekam. Wenn sie mich gefragt hätten, was mir widerfahren sei, schwerlich wäre mehr als Belangloses über meine Lippen gekommen, denn von all den bunten Gesichten schimmerte nur noch ein lichtes Gefühl in mir. und wie rätselhaft Beschenkte saßen wir bald um den engbrüstigen Tisch mit den ängstlichen Beinen. Mein Vater verließ seit einem Jahre nur noch in der Dunkelheit und bei notwendigen Besorgungen das Haus, und blieb er auch an diesem erlösten Tage der Gewohnheit seiner Menschenscheu treu, so trug er sich doch mit gemächlichem Trödeln das Rauchgerät zusammen, rückte einen Stuhl ans Fenster und blies bald große Wolken in das Feiertagslicht hinaus, während seine Äugen stät und still über die Bäume des Spitalgartens nach der Hainoldhöh blickten und die Finger seiner Rechten auf dem Fensterbrett trommelten.
Mich aber trieb das helle Flackern, das in mir nicht zur Ruhe kam, aus dem Hause durch die Stadt. Die Erwartung, einem noch nie Gesehenen zu begegnen, führte mich in den Gassen umher. Vor offenen Haustüren blieb ich ein Weilchen stehen, weil es mir war, das Unbekannte könne die verborgene Stiege des Hintergrundes herabkommen. An den Schaufenstern hielt ich an, und während meine Blicke gleichgültig die Auslagen musterten, spähte mein Lauschen hinter mich nach einem schwebenden Schritt. Aber ein Tritt im Hausinnern trieb mich von den Türen, das leise Heranrauschen eines Kleides verscheuchte mich von den bunten Fenstern, und traumbefangen irrte ich weiter. Einen Augenblick trat ich unter das offene Kirchtor. Als ich aber die predigende Stimme des Pfarrers Zimbal hörte, erlosch das Strahlen in mir, und ich floh. Und doch dachte ich gar nicht daran, daß mich die Liebe jage. Ich durfte mir nur vorstellen, das Mädchen, das von der Stadtmauer gestern abend nach mir geschaut hatte, könne aus einem Hause mir leibhaftig entgegentreten, dann erschrak ich. So floh und suchte ich sie lange, seligwirre Stunden.
Am späten Nachmittage betrat ich vom Ringe her den Burgberg, um nach Hause zu gehen. Die Sonne stand schon geneigt und der lange, unförmige Schatten des Wartturmes erfüllte die enge Straße. Da kam es mir in den Sinn, wie schön es sein müsse, hoch da droben hinter dem Mauerkranze zu stehen, der um den vieleckigen, plumpen Zuckerhut der Spitze lief und über das Gewirr der Dächer unter mir den fernen Tanz der blauen Berge zu betrachten. Ich erinnerte mich auch, daß es für den alten Willmann keine liebere Freude gebe, als den Besuch eines jungen Menschen, sei es Männlein oder Weiblein. Allerdings hatte ich auch gehört, daß der Zudrang des jungen Volkes sehr nachgelassen habe, seit der frohe Alte einem hübschen Bürgertöchterlein einen Kuß geraubt und mit den Burschen allerlei, wie die Leute sagten »albernes Gerede« geführt habe. Da ich vor dem einen sicher war und das andere nicht fürchtete, sprang ich bald die enge Steinstiege empor, die steil an dem alten Gemäuer hinaufkletterte und vor dem niedrigen Pförtchen endete, das, über der Mitte der Torwölbung, unter den Ranken wilden Weines verborgen war. Die Tür versperrte ein klapperndes Schloß, und auf mein Klopfen und Rütteln hörte ich rostige Angeln kreischen. Schwere Schritte näherten sich auf hohlliegenden Brettern und standen an der Pforte still. »Wer draußen?« fragte eine volle, gesunde Stimme. »Ich!« antwortete ich törichterweise. »Gar nicht übel!« verhöhnte mich der Alte. »Aber, Mann oder Weib?« – »Ein Bursche!« beschied ich ihn. »Na also!« Mit diesen