Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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»Denn küssest du mich so,« sagte sie, »dann legst du deinen Unsegen auf meinen Mund und mein Gebet, wenn es herfürgeht, verliert alle Kraft der Hilfe.«
Sie sah wohl meine tiefe Erschütterung und empfand mein geheimes Einverständnis mit ihr, und so fühlte ich mich plötzlich von ihrem Verlangen innerlich bedrängt, der Not ihrer Liebe beizustehen. Deshalb klang ihre Frage wie ein Jubel: »Willst du mit mir beten, mein Junge, mein lieber?« – »Aus vollem, ehrlichem Herzen?« fragte sie noch einmal. – »Ja, ja, alles, alles, was du willst«, antwortete ich.
Dann knieten wir nebeneinander wie in den Tagen meiner frühen Kindheit, ich, der verirrte Wahrheitssucher, und meine beglückte Mutter, und beteten flüsternd, um den Vater nicht zu wecken, und über mich kam, soviel ich auch innerlich dagegen kämpfte, doch ein ganz schwaches Zittern der Inbrunst, ein allerletzter Schimmer von dem Trümmerfelde meines vernichteten Kinderglaubens.
Als wir geendet hatten, umarmte mich Mutter in solcher Freude, wie wenn ihr eben ein neues Leben geschenkt worden sei und ging gleich so frisch an ihr Tagewerk, als habe sie ein langer, gnädiger Schlaf gestärkt. Allein unsere Seele kennt keine Klugheit; sie will selbst Barmherzigkeit und Liebe nicht gelten lassen, wenn es mit dem Verzicht auf eine heilige Notwendigkeit bezahlt werden muß. Und wenn ich mir auch unzählige Male bewies, daß auch der Stärkste nicht hätte anders handeln dürfen, wie ich gegen meine Mutter gehandelt hatte: ein schwerer, dumpfer Rest blieb in mir, der mich des erneuten Vergehens gegen den hohen Allgeist anklagte. Doch trotz dieser Anfechtungen blieb ich dem einmal gefaßten Entschluß treu, solange meines Lebens gar nicht zu achten, bis ich meinen Eltern aus jener Not geholfen hatte, in die sie durch mich geraten waren. Alles, was ich tun konnte, um das Andenken an Willmanns Güte in mir nicht zu Tode zu kränken und wenigstens in der Seele ein enges Pförtchen zur Freiheit offen zu halten, bestand darin, daß ich die Gebete, zu denen mich Mutter nun fast alle Tage zwang, im stillen jenem unbekannten Gotte weihte und ihm alle Schmerzen opferte, die ich darüber empfand. Diesen gleichen verborgenen Diebstahl beging ich auch durch den Empfang der Beichte und des Abendmahls in seinem Namen. Wohl hatte ich viele sonnenlose Tage und düstere Nächte deswegen, aber ich schmiegte mich dennoch ganz vor die Füße meiner Eltern.
An einem Morgen kam ich mit meiner Mutter aus der Frühmesse, ich bedrückt und mit niedergeschlagenen Augen, wie einer, den das böse Gewissen belastet ..., sie schlüpfte leicht und eilig einen Schritt vor mir her. Als wir aus der Torfahrt des Wartturmes heraustraten, fiel eine rote Nelke aus der Höhe vor meine Füße nieder. Ohne nach dem Spender zu spähen, bückte ich mich und hob sie unbemerkt auf. Niemand konnte sie geworfen haben als der ehrwürdige Greis, und wenn es auch sicher Torheit war, ich deutete diesen Gruß als ein Zeichen seiner unverminderten Neigung zu mir und faßte den Entschluß, zu ihm zu eilen, sobald ich ohne Scham vor ihm bestehen könne. Auf solchen Schleichwegen erlistete ich mir endlich karge Ruhe und das Recht auf die Hoffnung, mein und meiner Eltern Leben werde sich nach so langen Bedrängnissen doch noch ins Lichte heben.
Denn auch in meinem Vaterhaus wohnte seit dem Morgen, an dem ich mit der Mutter das erstemal nach Jahren wieder gebetet hatte, eine wundersam stille, schwach besonnte Luft. Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, so ist es mir, als sähe ich eine Reihe klarer, schöner Spätherbstmorgen. Alle Weiten sind leer von der Schneide der Sense; alle Felder müde und weich im Widerschein entschwundenen Glückes, dessen wirrer Traum in flüchtenden Vogelschwärmen noch einmal über sie hinstreicht oder aus unerreichbaren Fernen in weißen Wölkchen noch einmal grüßt. Durch die gelichteten Wälder plappern die Bäche wie ratlos Verirrte. Aus allen Poren der Erde aber bricht das Licht, das sie in gesegneten Tagen einsog und nun vor Erschöpfung wieder ausströmt, daß alle Dinge in einer fortwandelnden Helle stehen, durch die sich die letzten Blätter lautlos zur Erde drehen. Nur wenn sie irgendwo anstreichen, entsteht ein wispernd-surrender Ton, gleich dem verwankenden Geräusch des letzten Rädchens eines stehenbleibenden kunstvollen Werkes. Das Schicksal des Menschen hat Jahreszeiten wie das Jahr.
Meine Mutter hauste in alter froher Geschäftigkeit, und auch mein Vater schien verändert: ganz Güte, ganz Sanftmut. Er begrüßte mich stets mit einem Lächeln, das anfangs wohl wie unter Anstrengung durch eine starre Verbitterung brach, bald aber mühelos das eingefallene Gesicht erleuchtete. Nur wenn er sich ganz allein in der Stube sah, erlahmte sein froher Fleiß, und mit großen Augen ins Leere starrend, sah er lange untätig. Auch stand er auf, trat ans Fenster und fuhr, in sich versinkend, fortwährend mit der Rechten über das Holz des Fensterbrettes. Er rückte an den Bildern der Wand, hob den Werktisch hin und her, als habe er gewackelt; verlor sich Wohl auch mitten in der Stube und nagte an seinen Fingern. Wie auf eine geheime Verabredung blieben meine Mutter und ich daher tunlichst um ihn: sie saß und strickte endlos, ich hockte am Tisch über meinen Büchern. Der Vater aber schielte dann und wann verstohlen nach uns herum und trommelte darauf frisch mit seinem Hämmerchen über das Leder. Denn unser Geschäft war wirklich ganz aus der Erinnerung der Leute getilgt. Die wenigen Waren hingen unter großen Leinenlaken im Laden. Aber mein Vater gab doch den Anschein seines freien Meistertums nicht auf, obwohl er in Wirklichkeit nichts als Lohnarbeiter der Firma Kahl und Maruske in Breslau war, für die er noch immer Hosenträger fertigte. Der geheime Grimm hatte ihn scheinbar verlassen und war einer sicheren Resignation gewichen. Wenn er seine zehn Paar Traggürtel fix und sauber neben sich liegen hatte, setzte der Beginn des Feierabends mit dem Nachtessen ein. Wir öffneten das Fenster, und die Kühle der zeitigeren Dämmerung erfüllte das Zimmer. Das Not schlich manchmal über die Diele, das Rauschen der Bäume aus dem Spitalgarten tönte schwach herein, und wir saßen, um Licht zu sparen, bis tief in die Nacht im Finstern. Ich gab wohl meine gelernten Pensa zum besten und beantwortete, soweit mein Wissen reichte, die Fragen, die mein Vater an mich richtete. Die Stricknadeln meiner Mutter pinkten ihr feines, eintöniges Lied dazwischen. Manchmal aber wuchs mit den Schatten der Nacht lastendes Schweigen in unsere Stube; jedes saß stumm wie hinter einer schwarzen Wand gefangen; das Strickzeug der Mutter klang wie schwaches Kettenklirren, und setzte es aus, dann hörte man nur den Atem unserer Brust furchtsam und schneidend wie durch ein Gitter blasen.
An einem dieser von verborgener Furcht beladenen Abende erlosch in mir die Hoffnung für immer, das Glück unseres Hauses könne doch noch reifen, wie eine bittere Frucht in der letzten Herbstsonne zu Fülle und Schönheit sich rundet. Es war später geworden als je an einem anderen Tage. Keines wagte das Licht anzuzünden, denn jedes scheute sich wohl, des anderen Blässe und Sorge zu erleuchten, und so warteten wir stumm auf einen Hirnschlag der Stimmung zum Besseren. Vom Stadtgraben herauf klang selten das Gespräch Vorübergehender, die Bäume des Spitalgartens murmelten mit hartem Laube; die Wasser der Neiße hörte man leise ziehen. Ich saß auf dem Schemel am Werktisch und lauschte dem Laut des wandernden Flusses, der mir vernehmlicher tönte, wenn ich meinen Blick auf den ruhigen Nachthimmel lichtete, in dem die Sterne wie spielende Funken hingen.
»Es klingt, als wenn die Mücken in der Luft tanzten«, sagte meine Mutter vom Ofen her und begann ihre Nadeln wieder zu rühren.
Nein Vater atmete laut ein, als wolle er etwas erwidern, räusperte sich aber und schwieg.
Auf dem Stadtgraben näherten sich vom Pfeffer-Gerber her jagende Schritte. Die Hackeneisen schwerer Stiefel klapperten gegen das Pflaster. Hinter unseren Fenstern warf es den Läufer klatschend hin. Mit Gemurmel arbeitete er sich wieder auf. Man hörte ihn torkelnd umhertreten, als suche er etwas, und dann begann eine hohe, ausgemergelte Stimme an unserem Hause heraufzusingen:
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»Unser Herr Professor trinkt gern ein Dideldideldum. und dann wird's besser, dreht er sich um.«
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Ich