Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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wie ein Schnitt durch das Dunkel. Sie erhob sich und griff am Ofen herum, nach Streichhölzern suchend. Ich bewegte mich zum Fenster, sah gleichmütig hinaus und sagte leicht: »Das ist wieder so ein Bruder aus der Destille!« Rinke sang immer lauter und wilder. Dazwischen rief er fortwährend: »Prost, Sattlermeister!« Ehe ich das Fenster schließen konnte, jächte auf der Straße ein anderer heran und schrie: »Franze! Franze! Meinen Stecken her, Franze!«

      Da flammte das Licht in unserer Stube auf.

      Der Vater saß steif auf seinem Sofaplatz und hörte auf den Lärm der Trinker. Rinke sang noch immer, und der andere schrie fortwährend darein. Da ging plötzlich ein reißendes Gewittern über das Gesicht meines Vaters. Mit ein paar Schritten war er am Fenster und hob den Arm, es zu öffnen. Meine Mutter verfolgte mit fast krankhafter Gespanntheit seine Gebärden und griff verlegen ihren Strumpf durch. Der Vater aber ließ plötzlich seine Hand sinken und brach zu unserem Erstaunen in ein tolles Gelächter aus. »Franze,« so äffte er des Trunkenen weinerlich-zornigen Ruf nach. »Franze, haha, ja, ganz so!« Er sah belustigt durch die Scheiben und wurde immer von neuen Anfällen, fast wie vom Lachkrampf, geschüttelt.

      Meine Mutter war sehr blaß geworden, legte enttäuscht den Strumpf weg, krümmte die Lippen in erzwungenem Lächeln und fragte mit beklommener Stimme: »Aber Mann, du wirst dir noch ein' Schaden tun. Was hat's denn?«

      Er drehte sich um, sah, nach Sammlung ringend, gegen die Erde, schüttelte den Kopf, als begreife er etwas nicht und sagte dann, ohne uns anzusehen: »Hmhm! Ich werd' mir erst anrauchen, dann erzähl' ich's euch.«

      Als er die Pfeife in Brand gesteckt hatte, begann er zu erzählen: »'s sind jetzt dreißig Jahre her – nun ja –. Ich war dazumal ein junger Kerle, forsch und lustig; adrett, geschniegelt und gebügelt. Ich arbeitete dazumal in Neiße und verdiente sieben Mark die Woche, nach altem Gelde zwei Taler zehn Silbergroschen. Die Meisterin kochte was Ordentliches, die Arbeit war sein und sauber, ha, was sollte da 'nen jungen Kerl nicht der Hafer stechen! Wir machen also 'nen schönen Sonntags eine Spritzfahrt nach Jauernig, der Hecht-Franze, ich und der Geselle vom Tapezier Wimpel, unser Huzelmann. Wir nannten ihn aber bloß so, eigentlich hieß er Thadäus Hutzler – nein Hubler – doch Hutzler ... Also ... wir – n – mieten uns eine offene zweispannige Droschke, steigen auf wie die Barone mitten auf'm Ringe und kutschen, mir nichts, dir nichts, als gehöre uns ganz Preußen, durch Neiße ...«

      Hier brach er ab, nachdem er den letzten Satz mit Anstrengung, unter wiederholten Anlaufen gegen eine sichtbare Abneigung gesprochen hatte. Er riß sich aber doch aus der hereinbrechenden Verdüsterung gewaltsam auf und fuhr fort: »Hutzelmann hatte eine Liebste – – also, wie wir auf die Mährngasse kommen, da ...« Seine Worte verdorrten ihm auf den Lippen. Er stützte den Kopf in die Hand und lächelte in bösem Hohn gegen die Tischplatte, während die Finger seiner Rechten grabend den Schnurrbart auszogen. Dann spuckte er verächtlich aus und murmelte: »Haha, ich Esel! Warum sitze ich hier und schwatze wie ein Weib?« Er raffte sich grimmig auf und fing an, rasch in der Stube auf und ab zu gehen. Obwohl meine Mutter so gut wie ich wußte, daß ihn nur seine unterdrückte Rachsucht stachelte, daß es ihn trieb, das Gift der erzwungenen Sanftmut in wildem Zorne auszubrechen, redete sie ihm gütig zu und sprach: »Nun, da ist doch nichts dabei, wenn du erzählst. Es ist ja Feierabend.«

      »Vielleicht, ja.« antwortete der Vater und trieb die Luft schnaubend durch die Nase, »hast recht, man hätte Zeit und sollte ein Ende machen.«

      »Aber du hast doch früher auch manchmal erzählt«, setzte die Mutter unbeirrt fort, und ihre Worte klangen zaghaft und aufreizend zugleich.

      Mit einem Schritt, der mehr einem Sprung glich, stand mein Vater vor ihr, sah bohrend auf sie nieder und schrie endlich gemartert: »Früher! Warum sagst du: Früher?«

      »Mußt du dich etwa schämen vor diesem Worte?« fragte meine Mutter, und ich spürte, wie sie ihn vorsichtig weiterführen wollte. Denn nun klang leise sogar etwas wie Hohn in ihrer Stimme.

      Der Vater stutzte, beugte sich nahe zu ihrem Gesicht und sagte stockend: »Du meinst, Weib, ich sollte doch noch meine Hände freimachen?«

      »Warum nicht?« fragte sie und sah ihm furchtlos in die Augen, »jawohl, freimachen, dich und uns, reinwaschen, dich und uns.«

      »Wie?« sprach mein Vater in schreckhaftem Staunen, »das sagst du? Hier, auf dem Flecke, wo deine Füße stehn, solltest du niederknien und beten, daß ich mich erhalt'. Dem Stein, der aus meiner Hand fliegt, muß ich nach, und dann gnade Gott uns allen. Ich kenn' mich besser! Das ist das eine. Und dann: Wenn ich dem Pack zuleide gehen will und dem treulosen Freunde, muß ich erst selber treulos werden, Pack sein, innerlich Pack sein. Solange ich lebe, will ich halten, was ich der Mutter in die kalte Hand gelobt habe, mich an keines Menschen Leben vergreifen und an keiner Macht, die über mir ist. Geh' ich daran zugrunde, so sterb' ich in Ehren.« Er trat weg und begann wieder umherzuwandeln. Während er hin- und widerging, verschwand seine Aufgerecktheit immer mehr, er sank ein und schüttelte murmelnd fortwährend das Haupt. Unvermutet blieb er vor mir stehen, maß mich mit den Augen, und sich halb zur Mutter wendend, sagte er feierlich: »Da, Mutter, mein Sohn ist auch noch einer! Und ruft es mich ab, ehe es hell um mich geworden ist, so wird er das Licht an meinem Grabe anstecken.«

      Erschüttert, ohne zu wissen, was ich tue, bot ich meine Hand zum Versprechen. Aber er bewegte verneinend den Kopf und sagte: »Nein, keinen Knebel, um Gottes willen, keinen Knebel! Wenn du Ehre mitbekommen hast, dann wirst du aus eigener Kraft dich hüten, mein Grab zu besudeln.«

      Er lehrte sich ab und ging mit den behutsamen Schritten, die er sich seit Monaten angewöhnt hatte, an seinen Platz zurück, rauchte sich die Pfeife an und sah vor sich nieder. Darauf kam ein kümmerliches Armenlächeln über sein Gesicht, das langsam in der Versunkenheit leeren Ernstes erlosch.

      Mir war zumute, als habe sich mein Vater eben lebendig begraben. Ich schlug ein Buch auf und starrte auf die Buchstaben, maß mit den Augen die Ränder, die Schriftfläche, zählte die Zeilen und litt indessen an der Empfindung, von unsichtbaren Banden immer enger und enger zusammengeschnürt zu werden.

      Da begann meine Mutter zu singen:

      »Graus war die Nacht, und um die Giebel

       der Försterwohnung heulte Sturm.

       Der fromme Greis las in der Bibel,

       und sieben schlug's am Kirchhofsturm.«

      Leise, wie Vogelflügel über entblätternde Blüten streichen, sang sie; leise, wie die Hände einer Krankenpflegerin, waren die Töne des alten Liedes. Sie bewegte kaum die blassen Lippen beim Gesänge. Manchmal riß das Mitleid zuckend an ihrer Stimme, manchmal zitterte sie in angstvoller Liebe. So sang sie die dreizehn Strophen.

      Und als der letzte Ton wie ein niedergleitendes Blatt sich in der Ecke verloren hatte, schlief der Schmerz in unseren offenen Wunden. Der tote Ernst war aus dem Gesicht des Vaters verschwunden, und eine weiche Aufgelöstheit hatte die scharfen Runzeln geglättet.

      »Es ist elf«, sagte er milde und erhob sich. »Ich bin müde, und dein Singen hat den Schlaf gerufen. Gute Nacht, liebes Weib! Gute Nacht, mein Sohn!«

      Mit stillen, gleichen Schlitten ging er von uns.

      Weine Mutter sah ihm gedankenvoll nach.

      »Hab' ich's recht gemacht, Franz?« fragte sie mich nach einer Weile.

      Ich sah sie traurig an. Da verstand sie, was ich sagen wollte und sprach: »Freilich, du hast recht, besser war es, wenn er aufgesprungen wäre. Aber, das ist ja wohl vorbei.«

      –

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