Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Derweil sickerte der Abend durch die Bäume, der Fluß begann zu rauchen, und wir kletterten den Abhang hinauf. Beim Abschiede war ihre Hand kalt und ihr Gesicht noch immer bewölkt von schamvollem Lächeln. »Auf Wiedersehen«, sagte ich und wollte sie umfangen; aber sie wich aus, krümmte schmerzvoll die Lippen und ging eiligen Schrittes davon.
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Am andern Tage wartete ich vergebens auf das Erscheinen Wallys am Fenster der Stadtmauer, vergeblich streifte ich abends vor dem zweiflügeligen Tore des Pausewangschen Hauses. Das Lämpchen blitzte wie ein gelber Nagelknopf von der finsteren Hinterwand des Flures, manchmal huschten Schritte die Stiege auf und nieder: Das Mädchen ließ sich nicht sehen. Und so blieb es auch die folgenden Tage. Ich war überzeugt, sie zürne mir, weil ich ihre leidenschaftlichen Liebkosungen unerwidert gelassen und kein Wort des Mitgefühls auf die Erzählung ihrer häuslichen Not gefunden hatte. Und wenn ich mich in der Tat der jungenhaften Angst auch ehrlich schämte, die mir das Wogen ihres Busens und das Feuer ihrer Küsse eingejagt hatte, so fühlte ich doch mit jedem Tage deutlicher, den sie sich entzog, daß das nicht der einzige, wenigstens nicht der tiefste Grund meiner Scheu gewesen war. Nein, eigentlich hatte mich deswegen diese vollkommene Ratlosigkeit erfaßt, weil sie, die Süße, gedämpft Heitere, das ganze Ebenbild meiner verklärten Schwester Anna, sich so jäh vor meinen Augen in das Gegenteil, in einen mir fremden, unbegreiflichen Menschen verwandelt hatte. Und weit, weit in meiner Ferne dämmerte außerdem eine Furcht, die noch kein Gesicht, und ein Zweifel, der noch kein Wort hatte. Darum brannte ich darauf, mich vor ihr und sie vor mir wieder zu rechtfertigen. Nach einer Woche wurde sie mir durch das Dunkel zugeführt. Ich lehnte grübelnd und frierend in der Pfeilernische neben dem Eingang des Pausewangschen Hauses. Der Ring war menschenleer, und die eisten Schneeflocken flimmerten ungestört durch den roten Lichtdunst der Laternen zur Erde. Neben dem Rathause türmte sich die steinerne Dreifaltigkeitsstatue wie ein erstarrter Springbrunnen aus Schatten in die halbe Finsternis hinauf. Und wie ich denken muhte, so erloschen und zugleich doch furchterregend sieht der alte Glaube in mir aus, näherte sich jemand mit behenden, leichten Schritten aus der Walauer Straße, blieb einen Augenblick am Denkmal stehen und strebte dann geraden Weges auf mich zu. Noch ehe die Gestalt den breiten Bürgersteig erreicht hatte, erkannte ich in ihr die Erwartete. Sie fuhr leicht zusammen, als ich auf sie zutrat, faßte sich aber schnell und sprach einige belanglose Worte des Erstaunens, mich hier zu sehen; das gab mir einen leise schmerzenden Stich, und statt der liebkosenden Worte, die sie mir wiedergewinnen sollten, brachte ich nichts fertig, als ihre Hand zu ergreifen und bekümmert ihre Augen zu suchen. Endlich vermochte ich, traurig und vorwurfsvoll, ihren Namen zu sagen. Sie aber zog mich in das Dunkel zurück nach der anderen Ringseite hin, damit wir den Blicken ihres Schwagers entgingen, der um diese Zeit seinen allabendlichen Ausflug in die Stadtbrauerei antrat. Dort wandelten wir auf und nieder, und sie plauderte hastig von den vergnügten Stunden, die sie eben beim Buchhändler Bunzel zugebracht habe. Es flackerte und zuckte wieder in ihren Worten, und sie klangen mir gar nicht so unbefangen fröhlich, sondern wie gehetzt und ängstlich, daß mich aufs neue Schmerz und Schweigen ergriffen. Plötzlich verstummte sie verlegen, faßte leidenschaftlich meine Hand und stammelte: »Sei gut, mein Lieber, sei mir gut!« Ich tröstete sie, soweit ich es in meiner Verwirrtheit vermochte, und da ich der Meinung war, sie halte mich wirklich für hart und gefühllos, versuchte ich, ihr meine Gemütsverfassung am Allerheiligentage klar zu machen. Allein kaum hatte ich diesen Namen ausgesprochen, als sie mir den Mund zuhielt und mich beschwor, um Gottes willen dieses Vorganges nicht mehr zu gedenken. Deswegen sprach ich nur davon, wie weit doch meine Liebe zu ihr in meinem Leben zurückreiche, daß sie geweiht sei durch den Segen des toten Willmann, und redete von der Güte und Schönheit meiner Schwester, der Wally in vielem Besten so ähnlich sei. Meine Worte mögen wohl von dem Traum meiner Kindheit, an den sie rührten, besonnt und berauscht geklungen haben, denn ich fühlte, wie sie davon ergriffen wurde, und wie die böse Unruhe um sie ganz verschwand. Sie ging wieder leicht und ruhig neben mir hin, umduftet von dem Zauber der Jugend und Schönheit.
Als die Laternen erloschen, blieb sie stehen, neigte ihr Gesicht so nahe an das meinige, daß ich ihre Augen in der Nacht glänzen sah und sagte mit leiser, glückverhaltener Stimme: »Ich will jetzt ganz deine stille, sanfte Anna sein, nimmer die Wally, die dir wehtut, gar, gar nimmer!« So trennten wir uns. Sie verschwand in dem großen Haustor. und ich ging in die lichteste, trunkenste Nacht meines Lebens.
Wallys Gesicht, ihr ganzes Wesen, war nun für Wochen in friedvoll-sichere Stille getaucht. Ihre Altstimme klang wieder gesättigt von tiefer Beseeltheit. Manchmal waren ihre Zärtlichkeiten scheu, voll der frommen Verwunderung erster Mädchenliebe. Sie lauschte meinen Worten wie Offenbarungen und empfing meine Herzlichkeiten wie unverdientes Glück. Und doch sah sie mich oft mit erwartenden Augen an, wenn ich, mitten im Spiel der Liebe, von den Finsternissen meines Lebens gestreift, leichter Düsterkeit verfiel, als sehne sie sich nach einem tieferen Strom meines Daseins, nach der Sorge und Not meines Lebens. Aber ich brachte es nicht über mich, von dem Letzten und Heimlichsten meiner Seele zu ihr zu reden und wagte auch nie, nach den heiligen Verborgenheiten ihres Lebens meine Hand auszustrecken, sondern gab ihr immer nur Liebkosungen. Hatte ich so ihr Erwarten getäuscht, dann verharrte sie lange ratlos in meinen Anblick versunken und klagte dann leise, daß ich sie nicht liebe. Am anderen Tage, wenn ich in der Finsternis des Wintermorgens über den Ring ins Seminar ging, sah ich sie wohl mit dem Gebetbuch in der Hand zur Kirche eilen.
Kinzel traf ich nie wieder vor ihrem Hause. Dafür suchte er auf jede Weise an mich heranzukommen, grüßte mich, obwohl er einen ausgewachsenen Schnurrbart trug, bot mir Zigaretten an und schritt bald zu Vertraulichkeiten fort, von denen er sich durch meine deutliche Kühle nicht abhalten ließ. Er sog sich an mir fest und bohrte sich brutal in mich hinein. Wallys Demut und Trauer wuchs indessen und steigerte sich oft zur Ängstlichkeit. An einem Abende blieb sie wieder aus, ohne mir vorher ein Zeichen gegeben zu haben, und am anderen Tage sah ich sie blaß und verstört förmlich vor mir fliehen. Das reifte meinen Zweifel zum Argwohn und steigerte meine Furcht zum Zorn. Ich versuchte zwar noch einigemal, ihrer habhaft zu werden, aber nicht, sie mir wiederzugewinnen, sondern mich jäh von ihr loszuschneiden.
An einem Abende dehnte ich deswegen die Streifereien bis tief in die Nacht aus. Als ich nach Hause kam, hörte ich in dem finsteren Flur jemand dumpf und monoton murmeln. Ich riß mit einem Streichholz Licht und traf nach einigem Suchen meine Mutter, nur mit dem Hemd bekleidet, in den Winkel neben dem Speiseschrank geklemmt,