Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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Fenster hinaus und schaute zum Nachthimmel auf. Er war tief, fast schwarzblau. und je länger mein Blick auf ihm ruhte, desto mehr verdunkelte er sich. Stern um Stern sog er in seine bodenlose Tiefe, bis zuletzt nur ein einziges, winziges Flackerlichtlein in der unübersehbaren, finsteren Höhenwüste übrigblieb. Das stand nicht allzu fern über den Dächern der Häuser, die wie die Rücken riesiger, schwarzer Tiere anzusehen waren.

      Mein Vater stirbt an seiner Mutter, sann ich; er ist schon so gut wie erloschen. Und als ich mein Äuge wieder zum Himmel wendete, war auch der letzte Stern von der Nacht ausgewischt. Da fiel es mir auf die Seele: Und ich werde um seinetwillen auch zugrunde gehen müssen.

      In der Luft nahte ein Wuchten, wie der Schwung von großen, unsichtbaren Flügeln. Muß das so sein? fragte ich die finstere Höhe. Aber sie gab mir keine Antwort. Das Rauschen der Flügel droben war vorübergehuscht, und kein Laut rührte sich rundum, als der ferne Schritt des Wächters und das Knarren des eisernen Doppeladlers auf dem Wartturm. Niemand auf der ganzen Erde konnte mir sagen, ob das der Sinn des Lebens sei, daß Kinder um ihrer Eltern willen sterben müssen. War es nicht genug, daß ich aus Liebe zu meinem Vater einen Beruf auf mich genommen hatte, den ich nicht liebte? Sollte ich ihm nun auch die Sehnsucht nach meinem Gott opfern, bei dem alten, toten Glauben verharren und dadurch einem Leben mich unterwerfen, das nichts als ein langes Verwesen bedeutete?

      Das Licht aus Willmanns Stube glomm ruhig und geborgen aus der Mauer, tröstlich und sanft. Da wurde ich von leidenschaftlicher Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden aus Kampf, Finsternis und Schmerz, die mein Leben waren, gefaßt und überlegte: Wenn ich mir ein Herz nähme, zu ihm ginge, meine Untreue eingestände, seine Vergebung erbäte und meine schweren Nöte ihm anvertraute, so würde er weder mit seiner Güte noch mit seiner Weisheit zurückhalten, und ich könnte noch einmal meines Daseins und meiner Hoffnung froh werden. Kaum hatte ich dies gesonnen, so sah ich das Licht aus der Tiefe des Zimmers heranschwanken, als sei der Greis durch meine Gedanken vom Tische aufgescheucht worden. Ich konnte deutlich die Lampe sehen und glaubte sogar den Kopf des Alten wahrzunehmen. Lange schwebte das Licht so am Fenster, und ich war ganz glücklich in dem Wahn, Willmann stehe dort und schaue nach mir her. Dann verschwand der Schein wieder tiefer ins Zimmer, stand eine Weile ruhig, wankte hin und her, erlosch scheinbar, tauchte auf, schwamm ans Fenster, schimmerte verlangend in die Nacht und sank in die Tiefe zurück, um nach einiger Zeit wieder wie ratlos umherzuwandeln. Selbst als ich mich ausgekleidet hatte und noch einmal zum Turme hinaufsah, gewahrte ich noch immer das Licht unruhig umherirren. Ich legte mich nieder und bemühte mich, meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, um den Greis nicht weiter zu stören.

      – – – – – – –

      Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen. Am anderen Morgen war er schon nicht mehr unter den Lebenden. In der späten Nacht, gegen die zwölfte Stunde, hatte der revidierende Wächter hinter den Willmannschen Fenstern einen grellen Feuerschein wahrgenommen. Da aber die Röte nicht ununterbrochen gegen die Scheiben stand, sondern zurückging, auflohte und wieder auf Augenblicke ganz versank, glaubte der biedere Mann, es handle sich um irgendeine der vielen Marotten des Greises, durch die er dem niederen Volke Heisterbergs ein unbegreifliches Wesen geworden war, betrachtete noch ein Weilchen das Spiel des Feuers hinter den kleinen Fenstern und ging mit Verwünschungen von dannen, als er den Greis droben ein durchdringendes, wieherndes Gelächter ausstoßen hörte. Auf dem Ringe zog er einen Kameraden aus einer Nische und erzählte ihm den Vorfall. Doch indem er nun des sonderbar gellenden Lachens Erwähnung tat, kam ihm plötzlich der eben gehörte Laut selbst nicht mehr als die Äußerung unbändiger Lust vor, sondern nun klang er ihm wie der hohe Schrei der Todesnot. Laufend erreichten die beiden wieder den Wartturm. Da sahen sie schon die Lohe hinter den Fenstern lecken. Jetzt zerbrachen die Scheiben und klirrten aufs Pflaster. Die Flammen züngelten am Gemäuer hinauf. Einer der Männer rannte die Stiege hinauf und donnerte rufend gegen die Pforte, der andere lief und lärmte die Feuerwehr aus dem Schlafe. Allein ehe die Löschmannschaft auf dem Platze erscheinen konnte, hatte der Brand einen Umfang angenommen, der eine Rettung unmöglich erscheinen ließ. Vergeblich versuchte man durch die niedrige Tür ins Innere vorzudringen; umsonst schlugen die Äxte der Steiger gegen das uralte, eisenfeste Gemäuer, um die Fensteröffnungen zu erweitern. Der Hauptmann tobte und pfiff, die Gendarmen fluchten, das Wasser der Spritze prasselte meistens gegen die Mauer. Nach zwei Stunden war alles vorüber. Aus den Fensterlöchern puffte dann und wann ein Schwaden bleichen Rauches.

      So war ein Menschenleben in Flammen aufgegangen, das alle Stunden seines Daseins in Feuer gelodert hatte. In der Frühe nach dem Brande führte ein Bauer aus einem fernen Gebirgsdorfe seinen hochgeleiterten Lastwagen nach Heisterberg. Er war ein ferner Verwandter Willmanns mütterlicherseits und hatte vor zwei Tagen einen Brief des Greises empfangen, in dem dieser ihm das Mobiliar seiner beiden kleinen Stuben schenkte, da er entschlossen sei, die Stadt zu verlassen und auf immer nach Österreich zurückzukehren. Es kostete Mühe, den alten Mann von der Tätsächlichkeit des Unglücks zu überzeugen. Hartnäckig buchstabierte er in dem Briefe umher, stand lange auf der Schwelle des Turmpförtchens und schaute trübselig in die Finsternis der hohen Spitze, aus deren zusammengebrochener Tiefe der schwelende Rauch der letzten Balkenreste stieg, fiel sogar dem gealterten, galligen Bürgermeister Schrader beschwerlich und fuhr endlich untröstlich und mit Verwünschungen von dannen, als habe der alte Willmann diesen tragischen Tod nur gewählt, um seine geizige Sippe noch einmal gründlich zu ärgern. Die ganze Stadt, die das Wesen dieses einzigen Greises nur nach seinen vielfältigen Schrullen beurteilt hatte, machte sich die törichte Meinung des Bauers zu eigen und verunehrte sein Andenken sogar durch Zorn, der so weit ging, daß man nach den oberflächlichsten Bemühungen es für unmöglich erklärte, seine Überreste in der Asche aufzufinden und in geweihter Erde zu bergen. Selbst die Kirche nahm sich seiner Gebeine nicht an, weil er der österlichen Pflicht nie genügt hatte. Ja, der Pfarrer Zimbal fand in der sonntäglichen Predigt Gelegenheit, auf das schreckliche Ende als die gerechte Strafe eines unversöhnten Sünders hinzuweisen. So schweifte der einzige Mensch, der mein wegloses Leben ins Sichere hätte weisen können, als ungeborgener, verfemter Geist, und mir blieb nicht einmal der Trost, mich reinen Herzens an seinen Schatten schmiegen zu dürfen. Denn ob ich auch bald von der selbstquälerischen Bezichtigung loskam, ihn an seinem letzten Abende mit meiner Unruhe aufgescheucht und durch seine Stuben in den Tod getrieben zu haben, über die Neue wurde ich nicht Herr, daß mein untreues Fernbleiben seine letzten Wochen vergällt und den bitteren Entschluß in ihm gereift hatte, in der Fremde sein Grab zu suchen.

      In jenen Tagen lag vollkommene Windstille über Heisterberg. und aus der herbstfeuchten Erde braute dichter Nebel um die Dächer der Stadt. Auf diese Weise quälte mich die Klage um den Toten ohne Unterlaß, und in den Bemühungen, sein Leben und sein Ende mit den Notwendigkeiten meines Geschickes in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, geriet ich in das undurchdringliche Dunkel, das mein Leben bis heute umfängt. Denn ich sagte mir, daß Willmanns Dasein wahrscheinlich ausgeklungen wäre, wie der Ton einer Glocke im Abendrot des fluchtreichen Herbstes einschläft, wenn ich nicht seinen geneigten Weg gekreuzt hätte. Und ich kam, selbstzerstörerisch diesem Gedanken nachhängend, zu der Überzeugung, nicht nur unsere Familie sei vom Schicksal zur Vernichtung bestimmt, sondern vor allem auf meinem Dasein laste so die Fülle des Unsegens, daß meine Berührung Heitere verdüstere und schon Bedrängte noch in tiefere Not hineintreibe. Kein Sonnenstrahl sank in die Schlucht, in die ich mich verirrt hatte, und doch umgab mich auch nicht ganz lichtlose Nacht. Denn wie hätte ich dann überhaupt existieren können!

      Wenn ich den Zustand meines Lebens betrachte, wie er damals begann und mit wenigen Erleichterungen bis zu diesem Augenblicke angedauert hat, so gleicht er der Luft in diesem kleinen Zimmer in Wecknitz. Und wie ich hier hinter dem Schrank kauere, die Schatten meines Lebens heraufbeschwöre und noch einmal mit ihnen ringe, so habe ich all die schweren Jahre einsam und notvoll gegen sie gekämpft. Aber es blieb stockend um mich von den Finsternissen der Nacht wie hier. Kaum schwelte zu manchen Zeiten blasse Helle der Hoffnung über mich, wie vor den beiden Fenstern neben mir das eiste Wittern der Frühe bebt, während drunten noch alle verdunkelten Gärten schlafen und weiter draußen die schwarzen Feistelberge herüberdrohen. And wie das Licht dort auf dem Tische müde zuckt und doch an seinem Verdursten

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