Wittgensteiner Schatten. Sandra Halbe
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Читать онлайн книгу Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe страница 2
»Die genauen Details kenne ich nicht. Am besten fragst du das alles, wenn du vor Ort bist. Du hast heute Nachmittag um fünfzehn Uhr einen Termin auf der Polizeiwache.«
»Aber du hast mich doch beurlaubt«, gebe ich zu bedenken.
»Bist du mit meiner Entscheidung zufrieden?«
»Nein, aber …«
»Eben. Der zuständige Beamte vor Ort hat nach dir gefragt. Also sagen wir, ich lege den Begriff Beurlaubung großzügig aus. Dein persönlicher Bezug zu diesem Fall wird uns hilfreich sein, denke ich. Alle Informationen bekommst du heute Nachmittag von deinem Kollegen.«
Nachdem wir uns verabschiedet haben, lasse ich das Handy langsam sinken. Alles in mir rebelliert gegen diesen Auftrag. Ich habe in der Tat einen persönlichen Bezug dazu und bezweifle, dass der von Vorteil sein wird. Aber ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Bei meinem letzten Einsatz habe ich Mist gebaut. Wenn ich zurück in sein Team will, bin ich gezwungen, die Aufträge auszuführen, die Dennis mir zuteilt, ob es mir passt oder nicht.
In einer halben Stunde muss ich los. Während ich mich frisch mache, werfe ich einen letzten Blick in den Spiegel und zupfe meinen dunklen Pony ins Gesicht, sodass er das Muttermal auf der Stirn verdeckt. Die Koffer werde ich vorerst nicht zurück ins Auto bringen. Ich kann mich aber immer noch nicht dazu durchringen, sie auszupacken. Meine karierte Bluse wird den Termin auf der Wache überstehen, obwohl sie von der Fahrt knittrig ist.
Mein blauer VW Golf wartet auf mich.
Auf der Fahrt rekapituliere ich, was ich über den Fall Hellmar weiß: nicht allzu viel. Ich kann mich nur daran erinnern, dass er in weniger als einem Jahr insgesamt vier Frauen ermordet hat, zuletzt seine eigene. Deutlicher im Gedächtnis geblieben ist mir die Stimmung meines Vaters zu dieser Zeit. In Wittgenstein trieb ein Serienmörder sein Unwesen, und er als erfahrener Kommissar sollte ihn zur Strecke bringen, bevor er in den wohlverdienten Ruhestand gehen durfte. Ich sehe ihn heute noch vor mir: Die Wände in seinem Arbeitszimmer waren gepflastert mit Tatortfotos, sein Schreibtisch quoll über vor Dokumenten und Notizen. Vor zehn Jahren hätte er bereits mit Computern arbeiten können, aber er brauchte alle Informationen ausgedruckt vor sich. Jeden Abend saß er dort am Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben. Bis spät in die Nacht ging er alles durch, was er über die Morde wusste, wieder und wieder. Mit jeder ermordeten Frau wurden die Ränder unter seinen Augen dunkler, hingen die Mundwinkel weiter herunter. Den Schmerz in seiner Brust ignorierte er geflissentlich. Bis Hellmar sich stellte. Nach dessen Festnahme räumte mein Vater die Unterlagen und Fotos sorgfältig zurück in ihre Kisten. Erst nachdem alles wieder ordnungsgemäß verstaut und an die Staatsanwaltschaft übergeben war, kapitulierte er und ließ die Schmerzen zu. Hellmars Verurteilung sollte er nicht mehr erleben.
Ein Hupen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich stehe vor dem Kreisverkehr und habe freie Fahrt. Entschuldigend reiße ich eine Hand nach oben und setze mich wieder in Bewegung, um rechts auf die Hauptstraße abzubiegen.
Das BKA in Wiesbaden ist riesig: Je nachdem, welchen Teil des Gebäudes man aufsuchen muss, werden zwanzig Minuten mehr eingeplant, um dort pünktlich anzukommen. Im Vergleich dazu ist die Wache hier in Laasphe winzig. Ich habe den letzten freien Parkplatz vor dem kleinen Gebäude ergattert. Im Besprechungsraum bin ich erst mal alleine. Ich nippe an der Tasse Kaffee, die man mir angeboten hat. Als ich sehe, wer durch die Tür kommt, pruste ich den Schluck fast wieder aus: Es ist Alex!
Der schaut genauso überrascht drein wie ich. »Caro! Willkommen zu Hause!« Er schließt mich in die Arme.
Mühsam bringe ich ein »Hi« hervor. Ich kann es kaum glauben. Einer der ersten Menschen, der mir hier über den Weg läuft, ist Alex. Er sieht gut aus: groß und schlank, die dunklen Haare kurz geschnitten. Der gepflegte Vollbart ist neu. An seinen blauen Augen habe ich ihn trotzdem wiedererkannt.
»Wie lange ist es her, dass wir uns zuletzt gesehen haben?«, fragt er.
»Ich weiß es nicht. Zwei, drei Jahre?« Ich zucke mit den Schultern. Dabei weiß ich es sicher. Vor drei Jahren sind wir uns auf einer Geburtstagsfeier über den Weg gelaufen, kurz bevor ich nach Wiesbaden gezogen bin. Doch Alex muss nicht unbedingt wissen, dass unsere letzte Begegnung mir im Gedächtnis geblieben ist.
»Du siehst toll aus! Irgendwas an dir ist anders.« Alex macht es sich auf dem Stuhl mir gegenüber bequem und sieht mich aufmerksam an. »Warst du beim Friseur?«
Automatisch sind meine Hände wieder nach oben gewandert, um meinen Pony ins Gesicht zu ziehen. Ich fühle mich ertappt. »Ja«, erwidere ich und lasse die Arme schnell wieder in meinen Schoß sinken. Eine schlagfertige Bemerkung will mir nicht einfallen. »Schön, dass es dir gefällt.«
»Wie geht es dir?«, fragt Alex.
»Mein Chef hat dir mit Sicherheit erzählt, was passiert ist und warum ich hier bin«, weiche ich der Frage aus.
»Eigentlich nicht. Ich habe nach dir gefragt und schon gebangt, dass du anderweitig eingeteilt bist. Aber er hat mir gesagt, dass du ohnehin eine Weile hier in der Gegend bist und mir zur Verfügung stehst. Das kommt mir sehr gelegen. So muss ich keinen Kollegen aus Siegen herbeiordern und kann für mein Anliegen sogar jemanden einsetzen, dem ich vertraue. Ich hatte nur Angst, dass du absagen würdest.«
Ich weiß nicht, worüber ich mich mehr freue: dass mein Chef Alex keine Details über meine Rückkehr verraten hat oder dass Alex mir vertraut.
»Was kann ich für dich tun?«, frage ich, bemüht, meine Stimme neutral klingen zu lassen.
»Robert Hellmar sitzt seit zehn Jahren wegen Mordes an seiner Frau hier im Gefängnis. Wir, oder besser gesagt dein Vater, konnten ihn damals nur mit diesem einen Mord in Verbindung bringen. Die anderen drei Morde hat er zwar gestanden, aber über das Motiv hat er hartnäckig geschwiegen – bis jetzt. Hellmar ist an Krebs erkrankt und hat vermutlich nicht mehr lange zu leben. Er will sich anscheinend alles von der Seele reden, bevor er stirbt.«
Ich nicke. Wenn Serienmörder sterben, wollen sie sich entweder mit einem großen Knall verabschieden. Oder sie wollen gestehen. Hellmars Wunsch, auszupacken, überrascht mich nicht sonderlich. »Schön für ihn. Und wo komme ich ins Spiel?«
»Ich brauche jemanden, der seine Aussage aufnimmt und mit den Fakten abgleicht. Idealerweise einen Kollegen, der sich in Kriminalpsychologie auskennt und feststellt, wann der Kerl uns Märchen erzählt. Ich habe dich im Auge behalten, seit du hier weggegangen bist. Und für diesen Fall könnte ich mir niemanden vorstellen, der besser geeignet ist. Dein Lebenslauf liest sich wie ein Bilderbuch: nach dem Abi die Ausbildung zur Polizistin, anschließend der Wechsel zum BKA nach Wiesbaden, wo du als eine von fünfzig Teilnehmern pro Jahr ins Nachwuchsprogramm aufgenommen wurdest. In kürzester Zeit bist du zur Kriminalkommissarin aufgestiegen. Mit achtundzwanzig Jahren hast du schon viel erreicht. Wahnsinn!« Alex nickt anerkennend.
»Du bist wie üblich Weltmeister im Tiefstapeln. Schau dich doch mal an: Du bist nicht mal einunddreißig und leitest eine Dienststelle. Wie viele Beamte arbeiten hier?«
»Na ja, so um die zehn. Scheint, als hätten wir beide Karriere gemacht.« Alex lächelt, und ich sehe in seinen Augen, wie stolz er auf das ist, was er erreicht hat.
Am liebsten würde ich ihn jetzt nach dem fragen, was mich wirklich interessiert: Hat er eine Frau oder Lebensgefährtin? Kinder? Hat er oft an mich gedacht, nachdem ich Laasphe verlassen habe? Ich verkneife mir meine Fragen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. »Dann zeig mal her, was ihr