Wittgensteiner Schatten. Sandra Halbe

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Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe

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Alex von meinem abrupten Themawechsel überrascht ist, zeigt er es nicht. Kommentarlos führt er mich in einen kleinen Raum, in dem ich ungestört arbeiten kann. Auf einem Zettel hat er meine Nutzerdaten notiert, die mir Zugang zum Hauptrechner gewähren. »Mittlerweile ist alles digitalisiert«, erklärt er mir. »Aber dein Vater hat lieber mit Papier gearbeitet. Deswegen habe ich die für dich.« Er deutet auf fünf prall mit Akten gefüllte Kartons auf dem Boden neben dem Schreibtisch.

      Mein Blick wandert zwischen dem Computer und den Kartons hin und her. Die Tatsache, dass auch hier wenig mit Papier gearbeitet wird, überrascht mich nicht. In Wiesbaden ist das nicht anders, und ich habe mich daran gewöhnt, so viel wie möglich am Computer zu erledigen. Und doch tendiert ein Teil von mir dazu, die Papiere in den Händen zu halten, mit denen mein Vater gearbeitet hat. Sehnsüchtig schaue ich deswegen zu den Kartons mit den Akten hinüber. Seine Akten. Seine Anmerkungen, seine Handschrift.

      »Morgen früh um zehn Uhr hast du den ersten Termin im Gefängnis«, erklärt Alex.

      »Das ging ja schneller, als ich dachte«, bringe ich hervor. »Ich mache ich mich besser ans Werk.«

      Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Papierakten und lasse mich dann vor dem Computer nieder. Die Notizen meines Vaters müssen warten. Über den Rechner kann ich mich schneller in die Thematik einarbeiten. Wenn ich Hellmar zum ersten Mal begegne, will ich wenigstens einen groben Überblick über die damaligen Geschehnisse haben.

      3

      Derjenige, der die Daten zu Hellmars Morden archiviert hat, hat ganze Arbeit geleistet. Mir werden fünf Unterordner angezeigt: einer über Hellmar und jeweils einer für jeden der vier Morde. Ich spare den Ordner über Hellmar aus und beschließe, mir erst einmal einen Überblick über die Mordopfer zu verschaffen.

      Veronica Baumeister, das erste Opfer, wurde am 8. April im Kurpark in Bad Laasphe gefunden. Sie saß auf einer Bank mit Blick auf den Teich. Auf dem Tatortfoto sind die langen dunkelbraunen Haare strohig und haben jeglichen Glanz verloren. Dunkle Würgemale an ihrem Hals lassen kaum einen Zweifel an der Todesursache. Neben dem grausigen Bild gibt es ein Foto von Veronica Baumeister zu Lebzeiten. Auf der Homepage eines Immobilienmaklers lächelt sie direkt in die Kamera, die Haare sind hochgesteckt, die braunen Augen dezent geschminkt. Der Kragen einer weißen Bluse und ein dunkler Blazer vermitteln den Eindruck von Kompetenz. In ihrem Lebenslauf findet sich nichts Ungewöhnliches: Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau und machte anschließend ihren Maklerschein, um dann in einem Immobilienbüro einzusteigen. Veronica Baumeister war seit 1995 verheiratet und hatte ihren Geburtsnamen, Hirsch, gegen den ihres Mannes getauscht. Das Ehepaar hatte keine Kinder. Ihr Mann arbeitete in einem der umliegenden Autohäuser. Er hatte eine Vermisstenanzeige aufgegeben, weil seine Frau am Abend des 6. April nicht nach Hause gekommen war. Sie sei mit Schulfreunden verabredet gewesen, hatte er zu Protokoll gegeben. Mit wem genau, wusste er leider nicht. Veronica treffe sich öfter mit Freunden und müsse ihm darüber keine Rechenschaft ablegen. Als mein Vater ihn fragte, ob es möglich sei, dass seine Frau eine Affäre habe, rastete er aus und beendete das Gespräch. Dann tauchte das zweite Opfer auf – im wahrsten Sinne des Wortes.

      Gisela Schröter wurde im Weiher an der Amalienhütte in Niederlaasphe ertränkt. Am 11. Mai wurde ihre Leiche gefunden. Leider waren durch die lange Zeit im Wasser sämtliche Spuren vernichtet, sodass mein Vater weiterhin im Dunkeln tappte. Mit dem ersten Mord brachte er diesen Fall zunächst nicht in Verbindung. Dafür waren die Muster zu unterschiedlich. Gisela Schröter war ebenfalls dreiundvierzig Jahre alt. Auch ihre Augen waren braun, die Haare waren hier und da bereits mit grauen Strähnen durchzogen. Sie arbeitete als Grundschullehrerin in Niederlaasphe, lebte allein und war zur Zeit ihres Verschwindens schon seit einigen Wochen krankgeschrieben. So dauerte es eine Weile, bis sie vermisst gemeldet wurde. Gisela Schröter hatte wegen diverser Bandscheibenvorfälle eine Reha beantragt. Viele dachten, sie wäre spontan genehmigt worden, sodass Frau Schröters Freunde recht spät die Polizei alarmierten. Erst als sie auf sämtliche Anrufe nicht reagierte und zu Hause tagelang die Tür nicht öffnete, wurde jemand misstrauisch. Zunächst gab es keinen Tatverdächtigen. Keinen Partner, niemanden aus dem Freundeskreis. Und sosehr man sich auch mal über eine schlechte Note seines Kindes aufregt: Für einen derart brutalen Mord ist das kein Motiv.

      Bereits am 7. Juni wurde das dritte Opfer gefunden: Helen Schulte, am Perfstausee in Breidenstein, erwürgt. Mit zweiundvierzig war sie die jüngste unter den Opfern. Ihre Haare trug sie zu einem blonden Bob geschnitten. Auf dem Tatortfoto waren die blauen Augen geschlossen. Auch hier hatte man ein Foto von ihr zu Lebzeiten beigefügt. Helen Schulte hatte eine eigene Website gehabt. Sie hatte sich als Diabetes- und Ernährungsberaterin selbstständig gemacht. Damit konnte sie Beruf und Familie gut miteinander vereinbaren. Helen Schulte lebte getrennt von ihrem Mann, der zwölfjährige Sohn wohnte bei ihr. Soweit zu erkennen, gab es aber keinen Sorgerechtsstreit, und beide Elternteile kümmerten sich um den Jungen. Nach Helen Schultes Tod zog der zu seinem Vater. Mein Vater hatte ihren Exmann überprüft, aber als Verdächtigen schnell ausgeschlossen.

      Nach dem Fund dieser Leiche war klar, dass alle Morde miteinander in Zusammenhang stehen mussten. Drei Frauen im gleichen Alter, die Tatorte lagen alle am Wasser. Die Morde fanden innerhalb weniger Monate statt. Das konnte kein Zufall sein.

      Der einzige Mord, der aus dem Rahmen fällt, ist der an Simone Hellmar. Ich muss das Bild, das von ihrer Leiche gemacht wurde, immer wieder ansehen. Im Gegensatz zu den anderen Opfern gibt es hier keine Spur von Verwesung. Hellmar hatte direkt nach seiner Tat die Polizei gerufen. Auf eine perverse Art ist dieses Bild überwältigend. Simone Hellmar liegt mit dem Rücken auf dem Ehebett, die langen blonden Haare sind um sie herumdrapiert wie ein Schleier. Die Arme sind beide ausgebreitet, die Augen geschlossen. Sie trägt Lidschatten und einen dezenten Lippenstift. Unter dem schwarzen Kleid wölbt sich ein Babybauch. Sie sieht aus, als würde sie schlafen. Alles an ihr wirkt so friedlich, obwohl die Sanitäter, kurz bevor dieses Bild gemacht wurde, um ihr Leben gekämpft haben müssen. Einen Moment lang kann ich mich nicht von dem Bild losreißen. Der Gedanke an den Mord an dieser wunderschönen, schwangeren Frau lässt mich mit einem Gefühl der Hilflosigkeit zurück.

      Sollte ich die Akte zu Robert Hellmar geschlossen halten? Morgen früh werde ich ihm zum ersten Mal gegenüberstehen. Ein Teil von mir will bei diesem Treffen unvoreingenommen sein. Doch im selben Moment wird mir klar, dass ich mir nur etwas vormache. Ich werde auf den Mörder von vier Frauen, darunter seine eigene, treffen. Der letzte Fall meines Vaters, der ihn monatelang beschäftigte und ihn am Ende das Leben kostete. Wie will ich da unvoreingenommen sein? Kopfschüttelnd öffne ich mit einem Doppelklick die Datei, in der ich die grundlegenden Informationen über Hellmar finden werde.

      Das Foto von Hellmar direkt nach seiner Festnahme versuche ich zu ignorieren. Ich nehme ein Paar große Augen wahr, das ruhig in die Kamera schaut, doch ich scrolle weiter, bis ich beim schriftlichen Teil ankomme. Hellmar ist 1965 geboren und in Bad Laasphe aufs Gymnasium gegangen. Nach dem Abitur studierte er BWL in Marburg, um nach Beendigung des Studiums bei einer der hiesigen Firmen einen Job anzunehmen. Zur Zeit seiner Festnahme war er in den strategischen Einkauf aufgestiegen und zu einem der Geschäftsführer ernannt worden. Sein Arbeitgeber war nach den Geschehnissen geschockt und beteuerte, dass Hellmar sich nie etwas hatte zuschulden kommen lassen.

      Das Haus, das das Ehepaar in Laasphe gebaut hatte, steht seit Robert Hellmars Festnahme leer, befindet sich aber nach wie vor in seinem Besitz. Hellmar bezahlt regelmäßig die Grundbesitzabgaben und Versicherungen. Anscheinend hatte er vor, nach dem Absitzen seiner Strafe dort wieder einzuziehen. Dank seines Gesundheitszustandes wird es dazu wohl nicht mehr kommen. Soweit ich der Akte entnehmen kann, hat Hellmar hier keine Familienangehörigen. Was wird mit dem Haus geschehen, wenn er im Gefängnis stirbt? Außerdem würde ich es mir gern von innen anschauen. Vielleicht findet sich dazu ja eine Möglichkeit.

      In Alex’ Büro ist der Schreibtisch unbesetzt. Er steht bei einer Kollegin, die Tasse Kaffee in der

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