Wittgensteiner Schatten. Sandra Halbe

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Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe

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Tage verbringe ich mit diesem Idioten, und ich habe nichts, absolut nichts.« Frustriert umklammere ich den Kaffeebecher, den Alex mir in die Hand gedrückt hat, als ich wie eine Furie zu ihm ins Büro gestürzt kam. »Sagtest du nicht vorgestern, dass ich ganz fix in meinen Urlaub zurückkann? Ich bin nicht einen Schritt weitergekommen. Ich habe vier Leichen und einen Mörder, der seit zehn Jahren hinter Gittern sitzt, sich über das Motiv aber weiterhin ausschweigt. Stattdessen will er Schnitzeljagd spielen und überreicht mir ein altes Klassenfoto, um das er auch noch ein Riesengeheimnis macht. Was immer ich damit anstelle, ich wette mit dir, dass er mich beim nächsten Mal über mein Lieblingsgericht ausfragt, wenn ich wieder zu ihm ins Gefängnis komme. Und am Ende muss ich froh sein, wenn es nur das ist und er nicht noch meine Körbchengröße wissen will.« Ich lache auf, so absurd ist diese Situation. Um mich zu bremsen, nehme ich einen Schluck von dem Kaffee. Immerhin ist der Inhalt meiner Tasse die Bezeichnung wert, im Gegensatz zu der Plörre von vorhin.

      Alex hat meinen Wortschwall schweigend über sich ergehen lassen. »Du hast doch gerade erst angefangen, aber Geduld war noch nie deine Stärke«, sagt er, und ich sehe genau, dass er sich ein Grinsen nicht verkneifen kann.

      »Spar dir deinen Sarkasmus!«, fahre ich ihn an.

      »Sorry, aber du bist süß, wenn du dich aufregst«, antwortet er ungerührt.

      Ich suche nach einer passenden Antwort, aber mir fällt keine ein.

      »Hat es dir die Sprache verschlagen?«

      »Gerade läuft einfach nichts nach Plan«, bringe ich hervor. »Ich bin in Laasphe statt im BKA in Wiesbaden, weil ich Mist gebaut habe. Ich wohne mit achtundzwanzig wieder bei meiner Mutter. Und jetzt muss ich mich mit dem letzten Fall meines Vaters auseinandersetzen und mich mit dem Monster abgeben, das ihn uns weggenommen hat, als er noch am Leben war.« Dass das Wiedersehen mit Alex zusätzlich alte Wunden aufreißt, verschweige ich.

      »Ich für meinen Teil bin froh, dass du wieder da bist«, sagt er leise.

      Ein paar Sekunden lang sehen wir einander wortlos an. »Ich versuche mal, mehr über dieses Bild zu erfahren«, wechsele ich das Thema und greife nach dem Foto, das ich zwischen uns auf den Tisch gelegt hatte. »Hellmar meinte, dass ich mit dem damaligen Lehrer der Schulklasse sprechen sollte. Ich muss herausfinden, wer das ist.«

      Die Qualität des Fotos lässt zu wünschen übrig. Aber auf diesem Bild sind sie alle vertreten: Simone Hellmar, geborene Stumpf, Helen Schulte, Gisela Schröter, Veronica Baumeister, geborene Hirsch. Und Robert Hellmar.

      Auf der Rückseite gibt ein kleiner Stempel das Jahr an, in dem es aufgenommen wurde. Zu der Zeit müssten die Opfer um die achtzehn Jahre alt gewesen und in die zwölfte Klasse gegangen sein. Möglicherweise ist das Bild kurz vor dem Abitur entstanden. Warum hat Hellmar mir ausgerechnet dieses Foto gegeben? Fünfundzwanzig Schüler strahlen in die Kamera. Auf den Fotos, die ich in der Datenbank finde, sind alle Frauen Anfang vierzig. Ein Vergleich mit den Mädchen auf dem Bild ist nahezu unmöglich, auch wenn ich weiß, dass sie sich alle darauf befinden. Der Einzige, den ich einwandfrei identifizieren kann, ist Robert Hellmar selbst. In der hinteren Reihe grinst er breit in die Kamera, mit einem Selbstbewusstsein, wie es nur achtzehnjährige Jungs haben. Doch egal, wie ich mich anstrenge, ich kann die Opfer keinem der Mädchen auf dem Foto mit Bestimmtheit zuordnen. Dafür haben sie sich nach der Schulzeit zu stark verändert. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als das zu tun, was Hellmar mir aufgetragen hat, und herauszufinden, wer der Lehrer auf dem Bild ist.

      7

      Zwei Stunden später stehe ich vor einem Einfamilienhaus in Niederlaasphe. Otto Sander, der Klassenlehrer der Hellmars und der anderen Frauen, lebt hier. Ich frage mich, ob mein Vater jemals gestanden hat, wo ich jetzt stehe. Die Verbindung zwischen Hellmar und den vier Frauen hat er gefunden, dazu habe ich eine Notiz in der Akte gesehen. Aber hat er den Lehrer verhört? Darüber gibt es zumindest keine Aufzeichnungen.

      Auf dem Bild habe ich Otto Sander auf Mitte dreißig geschätzt, also dürfte er jetzt Mitte siebzig sein. Ich habe überlegt, erst anzurufen, aber den Gedanken nicht ertragen, weiter tatenlos herumzusitzen. Deshalb bin ich hergefahren, auf die Gefahr hin, niemanden anzutreffen. Während ich vor der Haustür warte, lasse ich meinen Blick über das Grundstück schweifen: Ein kleines Rondell vor dem Haus ist mit Lebensbäumen bepflanzt, die einen Schnitt vertragen könnten. Wahrscheinlich ein altes Ehepaar, das nur gelegentlich Hilfe bei der Gartenarbeit bekommt.

      »Ja, bitte?« Eine gebückte Frau steht in der Tür, den Arm auf einen Stock gestützt. Sie trägt eine beige Hose mit einem passenden Oberteil, ihre grauen Haare sind ordentlich frisiert, auf der Nase sitzt eine große Lesebrille, hinter der sie mich aus wachen Augen anstarrt.

      »Frau Sander?«

      »Wir kaufen nichts.«

      »Mein Name ist Caroline König, ich bin von der Polizei«, bringe ich schnell heraus, bevor die Frau mir die Tür vor der Nase zuschlagen kann.

      »Kann ich Ihren Dienstausweis sehen?«

      »Natürlich.« Ich krame in meinem Portemonnaie und bedanke mich im Stillen bei Dennis, dass er mir meinen Ausweis nicht abgenommen hat.

      Frau Sander wirft einen kurzen Blick darauf, aber wie die meisten gibt sie sich damit zufrieden, ein Dokument unter die Nase gehalten zu bekommen, das offiziell aussieht. »Was kann ich für Sie tun, Frau König?«

      »Ihr Mann war doch bis zu seiner Pensionierung Lehrer am hiesigen Gymnasium, ist das korrekt?«

      »Ja.«

      »Ich bräuchte seine Mithilfe zu einem alten Fall, den wir wieder aufgerollt haben. Ist er zu sprechen?«

      Frau Sander presst die Lippen aufeinander. »Das könnte schwierig werden.«

      »Ist er zu Hause?«

      »Das schon, aber …«

      »Es dauert nicht lange, versprochen.«

      »Mein Mann ist schwer krank.«

      »Das tut mir leid, aber ich muss mit ihm reden«, wiederhole ich. So schnell lasse ich mich nicht abwimmeln.

      Frau Sander überlegt kurz. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee vertragen. Kommen Sie herein.«

      Dieser Kaffee ist der beste, den ich den ganzen Tag bekommen habe: frisch aufgesetzter, starker Filterkaffee. So gut, wie meine Mutter ihn macht. Ich halte die Nase über die Tasse, schließe einen Moment lang die Augen und atme den herben Geruch ein. »Danke«, bringe ich hervor, nachdem ich den ersten Schluck genommen habe.

      Frau Sander sitzt am anderen Ende des kleinen Tisches in der Küche und lächelt mich an. »Es gibt kaum etwas, was ein guter Kaffee nicht lösen kann.«

      »Dem kann ich nicht zustimmen. Aber ich kann meine Probleme wenigstens für ein paar Minuten verdrängen.« Ich nehme noch einen Schluck und hoffe, dass Frau Sander mich bei meinem nächsten Satz nicht postwendend aus dem Haus jagt. »Darf ich fragen, an welcher Krankheit Ihr Mann leidet?«

      »Otto hatte vor drei Jahren den dritten Schlaganfall. Seine Motorik ist stark beeinträchtigt, und sein Sprachzentrum ist ebenso betroffen. Alles strengt ihn an. Er schläft viel.« Sie sagt es so neutral, als würde sie über das Wetter reden.

      »Meinen Sie –«, setze ich an, doch sie unterbricht mich.

      »Ich

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