Wittgensteiner Schatten. Sandra Halbe
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Читать онлайн книгу Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe страница 6
Meine Mundwinkel heben sich. Zum ersten Mal heute bringe ich ein Lächeln zustande. »Bei mir auch nicht«, antworte ich und hoffe, dass das bei ihm eine ähnliche Reaktion hervorruft. Dann lege ich auf und mache mich auf den Weg in die Küche. Vielleicht sind ein paar von den Nudeln übrig, die ich Sonntagmittag verschmäht habe. Auf einmal habe ich Hunger.
6
Dienstag
»Willkommen zurück, Frau König«, begrüßt Hellmar mich am nächsten Tag. »Ich habe mich gefragt, ob ich Sie wiedersehen würde.«
»So schnell werden Sie mich nicht los.« Ich setze mich ihm gegenüber. Heute gibt es sogar Kaffee aus einer Thermoskanne. Anscheinend haben die Vollzugsbeamten nach dem gestrigen Gespräch Vertrauen zu Hellmar gefasst und denken nicht, dass er mir oder sich Schaden zufügen würde. Das Gebräu ist nur lauwarm und schmeckt scheußlich. Ich verziehe das Gesicht und schiebe den Plastikbecher von mir weg. Hellmar scheint zu wissen, was ihn erwartet. Er hat seinen Kaffee erst gar nicht angerührt.
Ich habe gestern Abend lange überlegt, womit ich unser Gespräch beginnen werde. Tausende Fragen sind wie Fliegen durch meinen Kopf geschwirrt. Ich habe sie alle aufgeschrieben und versucht, sie nach Wichtigkeit zu ordnen. Immer wenn ich dachte, dass eine Frage Priorität hat, drängte sich wieder eine andere in den Vordergrund. Der Zettel mit meinen Notizen landete im Müll. Stattdessen habe ich die halbe Nacht an die Decke gestarrt. Deswegen sitze ich Hellmar jetzt wieder so planlos gegenüber wie gestern, ein leeres Notizbuch vor mir aufgeschlagen, hundemüde, in der Hoffnung, dass meine Intuition mich nicht im Stich lassen wird. »Erzählen Sie mir von Ihrer Frau Simone«, bitte ich ihn.
Hellmar zieht die Augenbrauen hoch. Er wirkt überrascht. »Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie mir mitteilen wollen. Wie haben Sie sich kennengelernt?«
Hellmar hat den Mord an seiner Frau gestanden. Ich weiß, dass ich mich auf die drei vorherigen Morde konzentrieren sollte, die, zu denen offiziell nie eine Verbindung bestand. Aber ich kann es nicht ändern: Der letzte Mord scheint mir der wichtigste zu sein. Deswegen möchte ich alles über die Beziehung der Hellmars erfahren.
»Simone und ich haben einander in der Schule kennengelernt. Zu dieser Zeit haben wir aber eher nebeneinanderher gelebt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Während des Studiums wurde aus unserer Freundschaft dann mehr. Wir haben beide in Marburg studiert, ich BWL und sie Medizin. Sie hatte einen kleinen Kredit aufgenommen, um sich vor Ort eine Wohnung leisten zu können. Ich nahm jeden Tag den Zug von Laasphe aus und fuhr abends nach den Vorlesungen wieder zurück. Bis ich irgendwann angefangen habe, bei ihr zu übernachten. Sie hatte eine winzige Wohnung, aber wir beide brauchten ja nicht viel Platz.« Bei dem Gedanken an diese gemeinsamen Nächte bilden sich viele kleine Lachfalten um Hellmars Augen herum. »Marburg war damals schon eine schöne Stadt und hatte für Studenten viel zu bieten: Simone und ich verbrachten unsere vorlesungsfreie Zeit in einem der vielen Cafés, im Kino oder im Theater. Wir haben die Studienzeit genossen. Als ich die Möglichkeit bekam, nach dem Studium in einer Firma in Laasphe einzusteigen, führten wir eine Weile eine Wochenendbeziehung. Simone musste ihre Zeit als Assistenzärztin beenden, bevor sie nach Laasphe zurückkehren konnte. Sie stieg als Allgemeinmedizinerin in eine Praxis ein. Ja, sie kam meinetwegen wieder hierher.« Hellmar sieht vor sich auf den Tisch. »Eigentlich wollte sie nie zurück«, sagt er leise, mehr zu sich selbst.
Er hat keine Ahnung, wie sehr ich mich in seinen Worten wiederfinde, aber bevor ich etwas sagen kann, fährt er schon fort: »Wir ließen uns ein kleines Haus oben am Berg bauen, mit Aussicht auf die Stadt. Ein-, zweimal im Jahr fuhren wir in den Urlaub. Wir waren glücklich.«
Warum hast du sie dann umgebracht?, würde ich ihn gerne fragen, doch ich reiße mich zusammen. Ich will nicht wieder so vorpreschen, wie ich das gestern getan habe. »War Simones Schwangerschaft ein Problem für Sie?«
»Was?« Hellmar sieht mich an, als hätte ich ihn aus einer anderen Welt gerissen.
»Irgendetwas hat sich in Ihrem Leben geändert, das Sie dazu gebracht hat, diese Morde zu begehen. Es gab mit Sicherheit einen Auslöser für Ihre Gewalttaten.«
»Kommt da noch eine Frage?« Anscheinend hat Hellmar sich wieder ein wenig gefangen. »Hatte Ihr Vater hierzu eine These? Ich nehme an, Sie haben Einsicht in meine Akte.« Er bedenkt mich mit diesem freundlich-geduldigen Lächeln, bei dem ich mir unglaublich blöd vorkomme.
»Ihre Frau war im siebten Monat schwanger, als sie starb. Sie waren beide Anfang vierzig. War Ihnen das zu spät, um eine Familie zu gründen? Wollten Sie das Kind nicht? Hat Simone deswegen beschlossen, Sie zu verlassen und sich mit jemand anderem ein neues Leben aufzubauen? War das Kind am Ende gar nicht von Ihnen?« Verdammt, jetzt tue ich es doch wieder und gebe ihm Möglichkeiten vor.
Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich glaube, die Schatten unter Hellmars Augen sind dunkler geworden. Sein Lächeln wirkt jetzt eingefroren.
»Sagen wir, dass die Schwangerschaft meiner Frau eine Rolle gespielt hat, allerdings nicht so, wie Ihr Vater sich das gedacht hat oder wie Sie es sich zusammenreimen.«
»Dann klären Sie mich auf.«
»Wir sollten mit einem anderen Teil der Geschichte anfangen. Haben Sie eine Ahnung, woher die vier Frauen sich kannten?« Er greift in die Brusttasche seines Hemdes und zieht ein Foto hervor.
Ungeduldig reiße ich es ihm aus der Hand. »Das ist ein Klassenfoto«, antworte ich genervt. »Die vier Frauen sind mit Ihnen zusammen zur Schule gegangen. Auf die Gefahr hin, dass es Sie überrascht: So weit waren wir schon. Was genau ist die Erkenntnis, die ich hier gewinnen soll?«
»Nehmen Sie das Bild, Frau König. Vielleicht sollten Sie einmal den Lehrer befragen, der damals für die Klasse zuständig war. Das hat Ihr Vater, soweit ich weiß, versäumt.«
»Mein Vater hat nichts versäumt. Woher haben Sie das Foto überhaupt?«
Er lehnt sich zurück. Ein amüsiertes Funkeln macht sich in seinen Augen breit. »Habe ich jetzt doch Ihr Interesse geweckt?«
Ich schlucke meine Antwort herunter.
»Woher ich das Bild habe, tut nichts zur Sache. Wenn es Ihnen wichtig ist, kommen Sie schon selbst dahinter. Ich möchte Sie nur bitten, mir das Bild zurückzugeben. Tun Sie mir den Gefallen. Diesen einen, Frau König. Ich bin heute sehr müde und möchte mich gern hinlegen. Ich werde Sie nicht mit sinnlosen Fragen über Ihr Privatleben löchern.«
Hellmar sieht in der Tat so aus, als könnte ihm der Kopf jeden Moment auf die Tischplatte knallen, und dabei bin ich erst ein paar Minuten hier. Erst jetzt fällt mir auf, dass er sich heute nicht die Mühe gemacht hat, seine Gefängniskluft abzulegen, im Gegensatz zu gestern. In diesen Anzug würde er zweimal passen, so locker sitzt er. Anscheinend hat Hellmar in der letzten Zeit viel Gewicht verloren. Einen Augenblick lang habe ich Mitleid mit ihm. Die Medikamente scheinen ihm stärker zuzusetzen, als ich dachte. Und die Erinnerungen an seine Frau wieder auszugraben belastet ihn zusätzlich. Aber ich habe es mit einem Serienmörder zu tun, der auf uns zugekommen ist und sich selbst in diese Lage gebracht hat. Mein Mitleid verfliegt so schnell, wie es gekommen ist. Und jetzt soll ich zusätzlich einen Botengang für den Kerl erledigen. Ich verkneife mir, was ich Hellmar jetzt gern an den Kopf werfen würde, greife nach dem Bild und verlasse den Raum, ohne mich umzusehen.
Jo, der mich aus dem Gefängnis hinausbegleitet, muss sich anstrengen, um mit mir Schritt zu halten. Wenigstens hält er heute