Wittgensteiner Schatten. Sandra Halbe
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Читать онлайн книгу Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe страница 4
Dass mein Vater an diesem Fall nahezu zerbrochen ist und es deswegen in seinem Sinne wäre, ihn endlich zu lösen, sprechen wir nicht aus, obwohl ich Alex ansehe, dass er genauso darüber denkt wie ich. Ich verspreche ihm, dass ich nach meinem Besuch im Gefängnis Bericht erstatten werde. Dass ich schnell wieder in den Urlaub zurückkehren kann, bezweifle ich allerdings. Zehn Jahre hat Hellmar geschwiegen. Und dann soll er ausgerechnet jetzt alles auf den Tisch legen? Auch wenn er sich vor seinem Tod erleichtern will: Das kann ich einfach nicht glauben. Nicht, nachdem ich meinen Vater Abend für Abend an seinem Schreibtisch gesehen habe, auf der Suche nach der Antwort auf die schmerzlichste aller Fragen: Warum?
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Montag
Im Gefängnis werde ich schon erwartet. Ein hagerer Vollzugsbeamter namens Johannes, der sich selbst Jo nennt, wird mich zu Hellmar bringen. Auf dem Weg dorthin redet er ohne Punkt und Komma. »Dass man hier einmal ein Gefängnis bauen würde, hätte damals im Traum niemand gedacht. Und gewollt hat es erst recht keiner. Wer hat schon gern ein Gefängnis vor der Nase, so nah am Stadtzentrum? Was sollen nur die Touristen sagen? Aber der Knast im siebzig Kilometer entfernten Attendorn platzte aus allen Nähten, und dieser Standort war perfekt. So schnell die Gemüter sich erhitzt haben, so schnell haben sie sich wieder beruhigt. Das Gefängnis bringt schließlich Geld in die Kassen.« Er grinst mich an und wartet darauf, dass ich ihm zustimme. Aber ich reagiere nicht, also setzt er erneut an. Aber da haben wir das Ende des Ganges erreicht. »So, da sind wir schon.« Er schließt die Tür zu dem Besucherzimmer auf, in dem ich mich mit Hellmar treffen soll. »Mit einem Serienmörder zu sprechen ist bestimmt aufregend für Sie, oder?«, versucht Jo es noch einmal.
Langsam geht der Kerl mir auf die Nerven. »Danke, Jo, ich komme jetzt allein zurecht«, sage ich so freundlich, wie ich kann.
Er sieht mich alles andere als begeistert an, aber versteht den Wink mit dem Zaunpfahl und lässt mich allein.
Das Zimmer ist klein. Man hat versucht, es so gemütlich wie möglich einzurichten. Blumenvasen sind natürlich tabu, damit könnten die Gefangenen sich und ihre Besucher verletzen. Die Vorhänge sind so angebracht, dass man die Sicherungen nicht sieht, die verhindern, dass die Fenster komplett geöffnet werden können. Auf dem Tisch stehen ein Plastikgefäß mit Wasser und zwei Kunststoffbecher. Neben dem Bild an der Wand ist ein kleines Fenster, das dem Beamten im Raum nebenan ermöglicht, uns im Blick zu behalten. Ich bin mir sicher, dass Hellmar nicht versuchen wird, mir etwas anzutun, aber Vorschrift ist Vorschrift, und bei manchen Gefangenen ist das Paar zusätzlicher Augen mit Sicherheit von Vorteil. Der Ausblick aus dem Fenster wirkt beruhigend auf mich. Das Gefängnis liegt direkt am Wald, sodass man nichts als Bäume sieht. Die sind um diese Jahreszeit zwar kahl, und der graue Himmel lässt sie trist wirken, aber ich stelle mir vor, dass der Ausblick im Frühjahr durchaus reizvoll ist. Ich frage mich, ob man von hier aus auch Waldbewohner wie Rehe oder Wildschweine entdecken kann, doch da öffnet sich die Tür hinter mir, und Hellmar wird hereingelassen.
Der Tod hat viele Gesichter: Er erscheint in Form eines IS-Kämpfers, der sich und möglichst andere im Namen seines Gottes in die Luft sprengt. Er kommt in Form eines Fünfzehnjährigen, der in der Schule seine Klassenkameraden und anschließend sich selbst erschießt. Oder er ist der betrogene Ehemann, der seine Frau und ihren Liebhaber aus Eifersucht ersticht. Ich bin mir sicher, dass Hellmars Nachbarn der Presse erzählt haben, wie merkwürdig er sich verhalten hat. »Mit dem stimmt was nicht, das wussten wir schon immer«, so in der Art werden sie sich vor den Reportern geäußert haben. Aber das ist nicht wahr. Der Tod kommt oft überraschend und lässt sich nicht auf einen Typus festnageln. Bis zu seiner Festnahme hatte Robert Hellmar ein ganz normales Leben geführt.
Und er sieht nicht wie ein Mörder aus. Er ist kaum größer als ich und trägt statt der Gefängniskluft ein Hemd mit einem Pullunder zu einer Jeans, die ein wenig zu locker sitzt. Er ist glatt rasiert. Die dunklen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haare sind vor Kurzem erst geschnitten worden. Abgesehen vom gepflegten Äußeren hat er eine sympathische Ausstrahlung. Er sieht nicht aus wie dreiundfünfzig. Ich hätte ihn zehn Jahre älter geschätzt. Die Ränder unter seinen Augen lassen vermuten, dass er wenig Schlaf bekommt oder die Krebsmedikamente ihm zu schaffen machen. Sein Händedruck ist fest und sein Lächeln warm. Mit angenehm dunkler Stimme stellt er sich vor. »Setzen wir uns doch«, schlägt er vor und deutet auf den Tisch in der Mitte. Als wären wir in seinem Wohnzimmer und nicht im Gefängnis. »Frau König«, sagt er, nachdem wir Platz genommen haben. »Sind Sie die Tochter …?«
Ja, ich bin die Tochter des Polizisten, dessen Leben Sie ruiniert haben, würde ich ihm am liebsten ins Gesicht schreien. Aber ich beiße die Zähne aufeinander und nicke stattdessen. »Ja, mein Vater war Hauptkommissar Ernst König«, sage ich so ruhig wie möglich.
»Mit so hohem Besuch hatte ich gar nicht gerechnet«, antwortet er. Seine freundlichen Augen sehen mich unverwandt an. »Ihr Vater hatte ein Muttermal genau an der gleichen Stelle.« Er deutet auf meine Stirn.
Ich zupfe einige Ponysträhnen zurück ins Gesicht in der Hoffnung, dass sie den Leberfleck wieder verdecken. Dass die Begegnung mit Hellmar mich so aufwühlen würde, hatte ich nicht erwartet. Ich atme tief ein und aus, bis sich mein Herzschlag ein wenig beruhigt hat. »Meine Kollegen sagten mir, dass Sie bereit sind, ein Geständnis abzulegen?«, frage ich.
»Das ist richtig. Aber sprechen wir doch erst einmal über Sie. Frau König, was für eine Ehre! Die Tochter des großen Kommissars. Erzählen Sie mir von sich.«
»Herr Hellmar, ich bin nicht hier, um mit Ihnen Small Talk zu halten. Sie wollten uns etwas mitteilen. Wenn Sie dazu nicht bereit sind, können wir die Sache sofort abblasen, und ich gehe. Ganz wie Sie wollen.« Ich springe so heftig auf, dass der Stuhl hinter mir ins Wanken gerät. Mir doch egal, soll er umfallen. Als ich schon fast an der Tür angekommen bin, höre ich seine Stimme. Weiterhin ruhig, als wäre rein gar nichts vorgefallen.
»Frau König, setzen Sie sich wieder. Bitte.«
Ich blicke mich um. Hellmar sieht zu mir auf. In seine Augen hat sich etwas Flehendes geschlichen. »Also, fangen wir noch mal von vorne an«, sage ich bemüht freundlich.
»Ich habe Sie überfallen«, gibt Hellmar zu. »Das tut mir leid. Für Sie ist die Situation mit Sicherheit nicht einfach. Womöglich haben Sie auch nicht sämtliche Informationen bekommen. Ich habe nicht mehr lange zu leben, und der Alltag hier drin kann ziemlich trist sein. Dass ausgerechnet Sie meinen Fall wieder aufrollen, ist äußerst interessant für mich. Ich möchte die nächsten Wochen nicht damit verbringen, einen endlosen Monolog zu halten. Das würde ich körperlich nicht aushalten, vermute ich. Lassen Sie uns gemeinsam über das sprechen, was damals passiert ist. Ich werde Ihnen Hinweise geben, damit Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Ich helfe, wo ich kann. Aber bitte erlauben Sie mir, ein paar Fragen zu stellen, um Sie näher kennenzulernen. Dann fällt es mir bestimmt leichter, diese intimen Details zu offenbaren. Keine Sorge, ich werde Ihnen nicht zu nahe treten. Aber ein paar kleine Einblicke in Ihr Leben müssen Sie mir schon gestatten. Sie sind offen zu mir, ich bin offen zu Ihnen. Wie klingt das?«
Hat Hellmar Alex von dem Deal erzählt? Hat er deswegen ausgerechnet mich für diese Aufgabe ausgewählt? Warum hat er nichts gesagt? Hat er geglaubt, dass ich dann nicht hierherkommen würde? Warum sollte ich darauf eingehen?