Der einsame Mann. Clara Viebig

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Der einsame Mann - Clara Viebig

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waren viele Monate seitdem vergangen. Der Sommer war gewesen und der Winter auch. Jetzt war es wiederum Sommer. In den Nächten, in denen die Mutter fest schlief, einen Schlaf der Erschöpfung, denn die Hausarbeit wurde ihr jetzt oft so seltsam schwer, stand der Knabe auf. In dem Nachtkittel, der ihm zu kurz geworden war — was ihm voriges Jahr noch bis an die Knöchel gereicht hatte, reichte ihm jetzt nur bis ans Knie — schlich er nebenan ins Wohnzimmer. Hier, hier war er allein. Er stand mit nackten Füssen auf den Dielen, die waren nicht kalt, und doch fühlte er sie kühl an den Sohlen, und das tat ihm wohl. Seltsame Schauer durchrannen ihn. Er starrte auf die Lichter, die der Mond mit bleichen Fingern durch das Fenster legte, auf die Dielen, auf den Teppich vorm Sofa, auf die Tischdecke, und die das Fensterkreuz abmalten, dass es wie hingeworfen mitten in der Stube lag. War nicht ein Plätschern in der Nacht, ein geheimnisvolles Rauschen?

      Er schlich ans Fenster: da war der Fluss. Wenn er doch einem Menschen erzählen könnte, was er dazumal gesehen hatte! Oh, das würde so gut tun. Sollte er’s der Mutter erzählen? Nein. Dem Baron? Auch nein. Die waren ja beide so alt, die verstanden das gar nicht. Er schämte sich auch zu sehr. Früher, als er noch so klein war, dass ihm dieser Nachtkittel schleppte, schämte er sich nie. Aber jetzt! Ein Zittern überfiel ihn, er kroch erschauernd in sich zusammen. Wenn er es ihnen erzählen würde, dann liessen sie sicher die Maria nicht mehr ins Haus kommen — nein, und das wollte er nicht. Und die hatte ihm doch auch das Leben gerettet. Und wenn er einmal mit der Maria selber darüber spräche? Sehr verständig wäre sie und klug, sagte die Mutter. Nein, mit der nicht, gerade mit der nicht. Sie sprach ja auch mit ihm niemals darüber; die hatte es ganz vergessen, dachte gar nicht mehr daran. Ja, er musste das, was er fühlte, ganz in sich selber verschliessen, keiner durfte es ahnen. Es war eine Schande, dass er die Nixe nicht vergessen konnte, und dass er sie immer noch sah, nackt aus dem Wasser steigen und mit Händen nach ihm langen, dass es ihn so überkam, dass er stürzte, ihr, nur ihr entgegen. Sollte, konnte, durfte er das jemandem sagen? Er presste die Lippen zusammen, wie damals, als man ihm gesagt hatte: »Erzähle, wie es kam!« Nein, er erzählte nichts, er würde es nie erzählen, immer schweigen davon. Aber er war ein schlechter Junge, dass er Gedanken nicht loswerden konnte, die sich daran knüpften. Sie waren alle hässlich. Waren sie denn wirklich hässlich? Waren sie nicht wie die Rosen draussen an der Hecke, die einem die Hände zerrissen mit ihren vielen Dornen, und die doch so schön waren und dufteten? Er stampfte mit den nackten Füssen auf: fort mit den Gedanken! Er wollte sie nicht haben. Oh, wieviel glücklicher war er früher gewesen! Wenn dann die Mutter sich im Bett umdrehte und die Kissen raschelten, dann hatte er sich immer so geborgen gefühlt, ihm war behaglich wie dem jungen Vogel im Nest; jetzt störte ihn selbst ihr Atmen. Oh, allein sein, allein!

      Er seufzte tief, wie einer, der körperliche Qual leidet, Schweiss trat ihm auf die Stirn. Und dann warf er sich plötzlich auf die Knie, mitten hinein in das Mondlicht, das wie eine weisse Lache am Fussboden schwamm, und streckte die Arme empor und fing an zu beten. Alle Abend betete die Mutter mit ihm, sie hatte es getan von seinem ersten Lallen an, und sie tat es noch immer. Wie kindisch hatte er’s doch gesprochen, wie ohne Gedanken: »Führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Übel!« In der Schule der Religionslehrer sagte: »Von dem Bösen —« nein, von dem »Übel«, das war richtiger, »erlöse uns von dem Übel«. Es war eine Krankheit, eine schwere Krankheit, vererbt durch Jahrtausende, von allem Anbeginn an, als nur erst Adam und Eva da waren und sonst niemand.

      »Erlöse mich von dem Übel!« Hans-Helmuts Knabenhaupt war zurückgeworfen, sein Leib bäumte sich in einer Qual, deren Schrecknisse so gross waren, dass sie fast Beseligungen wurden. Und doch waren sie schrecklich. Er stöhnte laut.

      »Hans-Helmut!«

      Im Nebenzimmer rührte sich’s. Das war die Stimme der Mutter: »Wo bist du?« Es klang ängstlich. Die Frau war erwacht. Aufgeschreckt durch Unbestimmtes, tastete sie nach dem Bett neben sich: leer. War dem Knaben nicht wohl? Sie rief laut seinen Namen.

      Das brachte ihn zu sich. Zitternd wie ein feiger Verbrecher stand er für Augenblicke. Dann stürzte er ins Schlafzimmer zurück, zog sich die Decke bis an die Stirn und wühlte sich, von Frost geschüttelt, tief ein in die Kissen. Er log etwas, was die Mutter beruhigte. Er hatte nicht schlafen können, es war so drückend eng in dem kleinen Zimmer, nebenan hatte er das Fenster geöffnet, die Nacht war schön, vom Fluss kam Kühlung — ah, Luft, Luft! Die hatte ihm wohlgetan.

      Hans-Helmut hatte recht, es war auch zu eng in dem kleinen Zimmer. Frau Doktor kam nicht der Gedanke, dass es nur für Mutter und Sohn zu eng war; sie hatte vergessen, dass es für sie und ihren Mann nicht eng gewesen war. Nun sollte Hans-Helmut sein eigenes Zimmer bekommen. Der Oberst unterstützte sie darin. Er hatte es längst nicht richtig gefunden, dass sie den Knaben noch bei sich behielt wie ein kleines Kind. Nun wollte er gern sein Wohnzimmer hergeben, oder es war vielleicht ebenso gut, er selber richtete sich dort das Schlafzimmer ein, und Hans-Helmut bezog sein Stübchen nach dem Garten. Das Haus war klein, man musste sich einschachteln. Von der Mansarde oben, an die Hans-Helmut mit einem gewissen Verlangen dachte, denn dort war man so ganz allein, so schön weit weg, riet er ab. Wie lange noch, und man musste eine ständige Dienerin ins Haus nehmen? Der Oberst sah es, wie schwer Frau Doktor die Arbeit fiel, sie würde die nicht lange mehr ohne Hilfe leisten können.

      Es war ein seltsamer Abend für die Frau, als sie zum erstenmal ganz allein schlief. Seit ihrem Hochzeitsabend hatte sie das nicht mehr getan. Erst ihr lebender Gatte, dann ihr toter Gatte — bis sie ihn in den Sarg legten, war er neben ihr geblieben — dann das Kind. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach dem anderen Bett, fort war es, leer der Platz, wo es gestanden hatte ganz leer. So gross das Zimmer, viel zu gross für einen einzelnen Menschen. Keine geliebten Atemzüge mehr, so sehr sie auch lauschte. Alles totenstill. Einsam war sie, ganz schreckensvoll einsam. Ihr wurde weh ums Herz. Nun fühlte sie noch einmal den Verlust ihres Mannes, glaubte den fast stärker noch als damals zu fühlen, nun, da sie den Knaben hatte hergeben müssen, ihr liebes, ihr kleines Kind. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

      Als sie Hans-Helmut am Morgen wieder sah, kam er ihr viel grösser vor, viel erwachsener, sie mass ihn mit ganz erstaunten Augen. Hatte sie denn gar nicht bemerkt, wie aufgeschossen er war? Seine mageren Arme streckten sich lang aus den Ärmeln, der Hals war auch lang, sehnig und hager hob er sich aus dem Blusenausschnitt.

      Der Baron fing ihren musternden Blick auf. »Ja, ja,« sagte er gutmütig, »aus Kindern werden Leute. Er wird nicht mehr lange im Matrosenanzug gehen können. Der steht den jungen Leuten dann auf einmal nicht mehr.«

      Wie recht er hatte! Ach ja, er hatte eigentlich immer recht. Wenn sie schon eher auf ihn gehört, sich in Gedanken darauf vorbereitet hätte, wäre ihr vielleicht dieser Abschied — denn ein Abschied war es — jetzt nicht so schwer aufs Herz gefallen. Ob sie unter ihres Mannes Kleidern vielleicht etwas herausfand, das sie für Hans-Helmut zurechtmachen lassen konnte? Er konnte wirklich nicht mehr in dem kurzhosigen blauen Matrosenanzug gehen, in dem er früher so hübsch ausgesehen hatte mit seinem weissen weichen Nacken und den drallen Kinderbeinen. Langsam stieg Frau Doktor hinauf in die Mansarde, wo sie in einer grossen Truhe die Kleidungsstücke ihres verstorbenen Mannes aufbewahrte. Einmal in jedem Frühjahr wurde an die gerührt, die Kleider wurden geklopft, gebürstet, mit neuem Mottenpulver bestreut; nun musste sie ausser der Zeit darin stöbern.

      Stück für Stück nahm sie heraus und hängte es über Stühle. Fast schüchtern fasste sie die Sachen an, mit schonenden, sorgsamen Fingern. Dass nur ja nichts daran kam! Unmöglich konnte sie hier an seinem guten Anzug, den er Sonntags getragen hatte und immer, wenn er mit ihr ausging, etwas schneiden und ändern lassen! Der Anzug war dunkelgrau mit einem stricknadeldünnen kleinen weissen Streifen — nein, an den wurde noch nicht gerührt. Später konnte ihn Hans-Helmut unverändert tragen, genau wie er war. Diese kurze grünliche Joppe hier, die war vielleicht für den Knaben möglich. Auch die Hose dazu. Oh, wieviel glückliche Stunden hatte ihr Mann in diesem Anzug verlebt! Viele, viele Stunden war er in dem neben ihr hergewandert, durch die Berge, durch die Wälder, durch die ganze schöne Gegend ringsum, durch die Natur, die er so liebte.

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