Der Moloch. Jakob Wassermann
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Читать онлайн книгу Der Moloch - Jakob Wassermann страница 12
Agnes bekannte, sie wisse eigentlich nichts über Beate. So gütig aus ihre Äusserungen waren, und so sehr sie in Son und Wort jede Richterlichkeit ablehnte, aus allem war doch deutlich, dass sie und das junge Mädchen niemals aneinander warm geworden waren. Nichts Böses war Agnes bekannt, aber auch nichts, was ihr weiches und mit Nachsicht verschwenderisches Herz gefangen hätte. Mit froher Bereitwilligkeit hatte sie damals Alexanders Willen getan, und das Mädchen bei sich aufgenommen, selbst gefesselt und entzückt durch eine so zukunftsvolle Handlung. In Frieden hatte sie mit Beate gelebt, doch nicht in jener Freundschaft, die oft so glühend zwischen Frauen entsteht, deren gemeinsame Wünsche sich in einem dritten Wesen vereinigen. Es war, als sei das Kind aus einer fremden, stolzen Rasse zur Sklavin geworden, aber unbeugsam in der Seele und im Verborgenen auf einstige Befreiung und Macht hoffend. Ihre Vergnügungslust sei nicht zu bändigen, sagte Agnes, oft scheine sie still und ein wenig tückisch, oft ausgelassen und fast roh; auch lüge sie gern. Aber bei alledem liesse sich gut mit ihr hausen; sie füge sich schnell und wer weiss, vielleicht rumore nur die düstere Kindheit noch in ihr. Zu spät vielleicht sei sie in das Licht des Lebens getreten, als dass man die Dunkelheit, aus der sie gekommen, vergessen dürfe.
Alexander Hanka lauschte und freute sich einer Offenheit, die ihm Agnes und, wunderlich, auch Beate näher brachte. Er war weniger für das Tugendhafte, als für das, was Charakter gibt, und er konnte in der Verletzung üblicher Moralsätze etwas Lebensförderndes sehen. Und wie die sanfte Stimme seiner Schwester über alles hinweghuschte, das Eckige glättend, das Übel begütigend, erschien ihm Beate geschmückt mit den Zeichen der Persönlichkeit; ihr herbes Gebaren nahm er hin; er beschloss, es an Verständnis nicht fehlen zu lassen.
Als der Tisch gedeckt war, begann Agnes das junge Mädchen zu vermissen. Sie fragte die Magd, aber da trat Beate schon ein, mit derselben nachlässigen Langsamkeit, mit der sie gegangen war, und mit einer Miene, als hätte sie ein Taschentuch im Nebenzimmer geholt.
Hanka verbrachte die Hälfte der Nacht mit unruhvollen Gedanken. Zärtliche Regungen lagen ihm fern. Aber es war, als ob zukünftige Tage ihn lockten, und so verkroch er sich in Betrachtungen. Früh am Morgen machte er sich schon zu einem Spaziergang auf, denn er wollte einsam sein; nicht um zu beschliessen, sondern um Erwägungen und Entschlüssen zu entgehen, die zu Hause blieben, wo Beate war.
Agnes war auf den Wochenmarkt nach Podolin gegangen. Beate sass allein im Zimmer und vertrieb sich die Zeit, indem sie mit einer Schablone Stickmuster auf Linnen malte. Da klopfte es an der Türe, und Arnold trat ein. Er grüsste, nahm unbefangen ihr gegenüber Platz, und als er sich überzeugt hatte, dass sie allein sei, übergab er ihr das Kuvert mit der Photographie, wie er es von Specht empfangen. Sie nahm es, starrte schweigend auf das Bild, blickte Arnold an und verzog verächtlich Brauen und Mund. Dann stand sie auf, zerriss ihr Porträt und warf die Stücke in den Ofen, vor den sie sich nun mit gespreizten Beinen stellte und unverschämten Tones fragte: „Sind Sie vielleicht deshalb gekommen?“
Arnold bejahte.
„Zu viel Umstände“, spottete Beate.
„Ich finde auch, dass er zu viel Umstände mit Ihnen macht“, entgegnete Arnold trocken.
Beate trat zwei Schritte vor, erblasste, und ihr Blick irrte furchtsam von Tür zu Tür. Sie bekam Angst vor der Ruhe und Sicherheit ihres Gastes und wusste sich nicht zu erklären, warum er immer noch blieb. Sie legte den Arm über die Augen und stellte sich, als ob sie weinen wollte. Arnold sagte endlich: „Kommt Frau Hanka bald? Ich soll sie von Maxim Specht grüssen. Er hat nicht Zeit gehabt zu einem Besuch.“ Arnold fasste sehr wörtlich auf, was ihm bestellt war.
Aus diesen Worten und aus dem harmlosen, fragenden Blick, der sie begleitete, sah Beate, wie überflüssig ihre Befürchtungen seien. Ihr Selbstgefühl wuchs wieder; sie lachte spöttisch, wandte sich, um das Zimmer zu verlassen, und sagte auf der Schwelle: „Auf Wiedersehen.“ Damit schlug sie die Türe zu.
Arnold wartete nicht gerade, weil ihm der Auftrag zum Gruss so wichtig erschienen wäre; aber er vergass nach wenigen Minuten, dass er sich in einem fremden Haus befand. Das plötzliche Alleinsein liess unveränderliche Gedanken aufs neue emporstürmen. Ausserdem begann die drückende Stimmung des eigenen Zuhause von ihm zu weichen. Er hatte zusammen mit dem Doktor das Haus verlassen, der allerlei bedenkliche Redensarten über Frau Ansorges Krankheit gemacht hatte.
Während er noch versunken war, trat Alexander Hanka mit seinem ausholenden Schritt herein, nach seiner Gewohnheit spannweit die Tür öffnend. Er machte grosse Augen, als er einen unbekannten Menschen im Zimmer erblickte. Er verbeugte sich in seiner steifen Art und nannte seinen Namen, bemerkte aber zugleich, dass diese gesellschaftliche Form hier nicht angebracht war. Arnold sah verwundert zu ihm empor, denn ein so langer und magerer Mensch war ihm noch nicht vorgekommen. Hanka, nicht weniger verwundert, fing an zu lachen, geriet jedoch in Verlegenheit, als er den Fremden ohne Verlegenheit sah. Arnold erhob sich, und als er das fragende, fast zu einer fragenden Grimasse verzogene Sesicht Hankas ansah, begriff er, dass es sich um seinen Namen handelte, nannte ihn also und fügte hinzu, dass er eine Bestellung von dem Lehrer Specht auszurichten habe, der gestern abgereist sei.
Hanka erinnerte sich an Arnolds Namen wohl. So gleichgültig er damals auf Beates und Spechts Erzählung gelauscht hatte, etwas war in seinem Bewusstsein geblieben. Hanka hatte Vergnügen an diesem offenen, derben, gebräunten Gesicht, an der kräftigen, trockenen Stirn, die unbeweglich zwischen klar-grauen Augen und braunen glatten Haaren lag, an der gutgebauten Gestalt, die nichts von Verfettung und Krankhaftigkeit zeigte.
Vierzehntes Kapitel
Hanka fragte, und Arnold gab gehorsam Antwort. Hanka befremdete ihn. Sein natürlicher Scharfblick erfasste sofort die merkwürdige Mischung von Gutmütigkeit und Trauer, von Ironie und Langeweile in dessen Wesen. „Welche Beschäftigung haben Sie denn?“ fragte er.
„Keine,“ versetzte Hanka, „ich tue nichts.“
„Gar nichts?“
„Ich betrachte.“ Hanka hatte seinen Stock in der Hand behalten und klopfte damit, weit vorgebeugt sitzend, auf den Boden.
„Haben Sie denn nichts gelernt?“ fragte Arnold er staunt.
Hanka lachte laut. „O ja“, antwortete er. „Ich habe die Juristerei erlernt, aber eben deshalb mach’ ich keinen Gebrauch davon.“
Diese Antwort gab Arnold zu denken. Aber ehe er etwas dagegensagen konnte, kam Agnes ins Zimmer. Arnold richtete seinen Auftrag aus und schickte sich an zu gehen. Agnes war erfreut, ihn zu sehen, und dankbar für den Gruss des Lehrers. „Ein reizender Mann“, sagte sie von Specht. „Vielleicht kommen Sie, Herr Ansorge, nun recht oft zu uns.“ Sie sprach laut, schüttelte die Hand Arnolds, und ihre Augen strahlten mild. Arnold fühlte das beunruhigte Wesen von sich weichen, und Sympathie strömte auf ihn ein. Beate, die nach Agnes gekommen war, schnitt eine Fratze; als sie aber Hankas Blick auf sich ruhen fühlte, betrachtete sie Arnold mit wohlwollendem Lächeln.
Arnold verabschiedete sich. Zu Hause angekommen, fand er auf dem Tisch ein katholisches Flugblatt über den Raub der Jüdin. Darin wurden öffentliche Ideale und der Name Gottes angerufen, aber die Wahrheit stand dabei und steckte die Hände in die Taschen. Arnold überlief es heiss und kalt. Seine Zuversicht begann zu schwinden. Darüber vergass er die Mutter, wie er denn ihre Krankheit nicht ernst nahm, und keine Furcht deswegen empfand, hauptsächlich, weil Frau Ansorge ohne Äusserung eines Schmerzes lag.
Doch